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Basierend auf seinen Recherchen für das Buch "Der Baader-Meinhof-Komplex" verfasste der "Spiegel"-Journalist Stefan Aust das Drehbuch zu Reinhard Hauffs umstrittenem Spielfilm, der den Aufsehen erregenden Prozess gegen die RAF-Terroristen Baader, Meinhof, Ensslin und Raspe nacherzählt. Im Hochsicherheitsgefängnis von Stammheim begann im Mai 1975 die Gerichtsverhandlung, die sich über 192 Tage hinzog und mit dem Urteil "lebenslänglich" für alle Angeklagten endete.
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Immer wieder hat Heidi Handorf authentisches Material in Reinhard Hauffs Prozessfilm geschnitten, dessen Drehbuch auf Stefan Austs Recherchen zu seinem „Spiegel“-Bestseller „Der Baader-Meinhof-Komplex“ beruht. In der ersten Spielszene, die sich wie ein optischer Roter Faden durch den 107minütigen Film zieht, sehen wir das Quartett der Angeklagten, wie es im vergitterten VW-Bus zum Ort der Gerichtsverhandlung gefahren wird: Vorn Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, dahinter Jan-Carl Raspe und Andreas Baader.
Gleich in der ersten Gerichtsszene wird die hierarchische Struktur deutlich: Baader ist der Wortführer, provokant, gewalttätig, intelligent – und eloquent. Seinem voltenreichen Stakkato ist niemand gewachsen, und der Gerichtsvorsitzende schon gar nicht, welcher verzweifelt versucht, das Heft in der Hand zu halten mit Paragraphenreiterei und der Verhängung von Ordnungsstrafen bis hin zum zeitweiligen Ausschluss von der Verhandlung. Untaugliche Mittel, zumal wenn sie zum Dauerzustand werden: Baader & Co haben es darauf angelegt, aus ihrem „normalen Strafprozess“ (Gerichtsvorsitzender) den ersten politischen Prozess in der Geschichte der noch relativ jungen Bundesrepublik Deutschland zu machen.
Sie scheuen dabei vor keinem rhetorischen Mittel zurück und wissen nicht nur ihre Wahlverteidiger hinter sich, sondern auch einen bedeutenden Teil der veröffentlichten Meinung. Dabei wird die aufgeheizte Stimmung im Land in Reinhard Hauffs chronologisch erzähltem Film nur indirekt, sozusagen zwischen den Zeilen, thematisiert in den Gesprächen des RAF-Quartetts untereinander, mit den Anwälten, in O-Ton-Schnipseln aus Rundfunk und Fernsehen, in Publikationen der Terroristen außerhalb der Stammheimer Gefängnismauern, die den Angeklagten ganz offen im Gerichtssaal zur Kenntnis gegeben werden durch ihre Anwälte.
Von der Ablehnung ihrer Pflichtverteidiger über medizinische Untersuchungen ihrer Verhandlungsfähigkeit nach dem Hungerstreik für Aufhebung der „Isolationsfolter“ bis hin zu Dutzenden von Befangenheitsanträgen gegen das Gericht reichen immer neue taktische Scharaden der Terroristen, die von ihren kriminellen und nebenbei menschenverachtenden Gewalttaten ablenken wollen, indem sie immer neue Bezüge herstellen etwa zur Justiz des Dritten Reichs oder zum nicht weniger verbrecherischen Vietnamkrieg der US-Amerikaner.
Dabei haben Baader & Co immer wieder leichtes Spiel: Von der öffentlichen Vorverurteilung durch die Bundesanwaltschaft und einzelne Richter über den Geheimnisverrat des Gerichtsvorsitzenden, der Prozessakten an eine übergeordnete potentielle Revisionskammer weitergeleitet hat, von wo aus sie der Springer-Presse zugespielt worden sind, bis hin zum Abhörskandal in Stammheim haben die Vertreter des Staates und der Justiz alles dafür getan, dass Ulrike Meinhofs zu Beginn des Verfahrens geäußertes prophetisches Wort Wahrheit geworden ist: „Die Bundesrepublik wird nach Stammheim nicht mehr derselbe Staat sein.“ Es hat den Bundesanwälten nichts genutzt, dass sie darauf verwiesen haben, der Gerichtsvorsitzende habe auf die dauernden Provokationen der Angeklagten und ihrer Wahlverteidiger nur mit gleicher Münze zurückgezahlt: Er hat seinen Hut nehmen müssen und ist durch einen anderen ersetzt worden.
Zu diesem Zeitpunkt ist das Verfahren schon längst aus dem Ruder gelaufen: Der Tod Ulrike Meinhofs, im Film in einer für die zurückhaltende, unspektakuläre, Distanz wahrende Regie Reinhard Hauffs paradigmatischen Szene nur durch die Streichung ihres Namens auf dem Tagesordnungszettel am Gerichtssaal angedeutet, kann von den anderen RAF-Terroristen als „kalt konzipierte Hinrichtung“, „Mord“ und konsequentes Ende ihrer „Vernichtungshaft“ für ihre Strategie instrumentalisiert werden, den „Schweinestaat“ als solchen bloßzustellen. Und die Vernehmung unzähliger Zeugen gerät zur peinlichen Farce: Auf der einen Seite ein schmieriger Denunziant, der aus dem Nähkästchen plaudert (Dominique Horwitz als Kronzeuge), auf der anderen ein eiskalter, aalglatter Generalbundesanwalt mit unglaublichen Gedächtnislücken. Am 192. Verhandlungstag lautet das niemanden überraschende Urteil „lebenslänglich“ für alle drei noch verbliebenen Angeklagten.
Dass „Stammheim“ 1986 wie eine Bombe eingeschlagen hat inmitten eines angeschlagenen, völlig verunsicherten Rechtsstaates mit einer vor allem, aber nicht nur von einschlägigen Medien geschürten Terroristen-Hysterie in weiten Kreisen der Bevölkerung, kann man sich noch heute lebhaft vorstellen. Denn Reinhard Hauff hat sich keineswegs, wie von interessierter Seite gebetsmühlenartig behauptet, auf die Seite von Baader & Co gestellt. Auch wenn immer wieder persönliche Aufzeichnungen Ulrike Meinhofs aus dem Off zitiert werden, die sich freilich ausschließlich auf ihre Stammheimer Zeit beziehen: Die zarte Therese Affolter verkörpert eine vergleichsweise introvertierte intellektuelle Frau, die immer weniger mit dem einverstanden scheint, was auch in ihrem Namen geschieht – in und außerhalb der Stammheimer Gefängnismauern. Ob sie sich deshalb das Leben genommen hat, lassen die Bilder des Films offen: Nach Ulrike Meinhofs Tod hat Frank Brühnes Kamera nicht einen von 2930 Metern in ihrer Zelle gedreht.
„Stammheim“ erfüllt die Kriterien eines dokumentarischen Spielfilms, der sich auf die Aktenlage stützt und nichts unter den Tisch fallen lässt: Die vergleichsweise noch junge Demokratie Bundesrepublik Deutschland hat sich in Stammheim vorführen lassen. Mit entsprechendem zeitlichen Abstand können wir konstatieren, was Mitte der Achtziger Jahre nicht möglich gewesen ist: Der Rechtsstaat hat sich dazu provozieren lassen, sich selbst auszuhebeln.
Pitt Herrmann