Inhalt
Das Abenteuer zweier Kinder beginnt in einem Hochhaus: Paul und Anna dringen unversehens mit einem Fahrstuhl in immer tiefere Etagen vor, bis sie in einem seltsamen Märchenland ankommen. Ein blindes Pferd namens Andante klärt sie auf: Sie befinden sich im Land einer bösen Hexe, die es auf ihre Jugend abgesehen hat.
Ihnen bleibt nur, sich mit Andante auf den Weg zum Hexenschloss zu machen, um sich der Gefahr zu stellen. Auf dem Weg begegnet ihnen ein Wecker ohne Zeiger und ein Ritter ohne Mut. Sie alle sind Opfer der "ollen Hexe", die es nun jedoch mit Anna und Paul zu tun bekommt.
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Anonyme Plattenbausiedlung – da kann man sich schon 'mal in der Adresse irren. „Ist das Haus alt?“ fragt Paul angesichts des arg abgerissenen Zustandes in den Fluren. „Jeder lässt seine schlechte Laune an den Wänden aus“, erklärt seine Mutter – zu Vor-Wende-Zeiten hätte ein solcher Satz die Zensur nicht passiert. Andererseits: zu normalen DDR-Zeiten hätte ein naturgemäß übellauniger Hausmeister solches Rowdytum mit Hilfe des nur ABV genannten Abschnittsbevollmächtigten leichter im Griff gehabt. Apropos im Griff haben: der Aufzug, in dem gerade ein Mann mit seinem Schäferhund festsitzt, streikt bereits zum dritten Mal in dieser Woche.
„Olle Hexe“ ist ein typisches Wendeprodukt der Defa, das die neuen künstlerischen Freiheiten der deutsch-deutschen Umbruchzeit nutzt zu einem modernen, im klassischen Sinn poetischen, dabei aber sehr ironischen und mit zahllosen Anspielungen gespickten Märchen auch für erwachsene Begleiter der Kinder. Obwohl das Szenarium von Anne Goßens bereits Anfang 1989 vielfach den Finger in so manche Wunde des sich gerade selbst feiernden Arbeiter- und Bauernstaates legte, dessen rascher Untergang sich noch nicht einmal am Horizont abzeichnete.
Paul ist, seines Alters entsprechend, ein ziemlicher Schlingel. Der Muttis teuren Lippenstift („der ist aus Paris!“) dazu nutzt, sich eine Blinddarm-Operationsnarbe auf den Bauch zu malen – und das auch noch auf der falschen Seite. Als er zusammen mit dem rotzfrechen neuen Nachbarsmädchen Anna im Fahrstuhl darüber streitet, ob dieser nun nach oben oder nach unten fahren soll, landen beide nach einer schier unendlich anmutenden Fahrt in immer tiefere Etagen in einer gruselig-unwirklichen Unterwelt inmitten von Plastikmüll und Autowracks mit wie von Geisterhand bewegten Hupen und Lampen. In dieser geradezu apokalyptischen Atmosphäre taucht im Nebel ein Schimmel auf, dessen Augen mit einer ehernen Maske bedeckt sind: Andante heißt dieses geradezu mythische Wesen, das blind ist, aber sprechen kann (Joachim Kaps).
Der Vierbeiner weiß von einer Hexe mit grässlichen grünen Haaren, die hier ihr Unwesen treibt. Und hat erkannt, dass „die kleinen selbstsüchtigen Zankteufel“ von Kindern sich einig sein müssen, um sich ihrem Einfluss entziehen zu können. Was freilich nicht auf Kommando vollzogen wird: Erst muss, wie im Leben der Erwachsenen, die Einsicht da sein. Dampfende Tiegel und Kolben blubbern in der Höhle der Hexe, deren Spiegelbild sich als so etwas wie ein forderndes zweites Ich herausstellt, dass sie anstachelt, noch konsequenter ihre zauberische Macht einzusetzen. Gilt es doch, den Wettlauf mit der Zeit, genauer gesagt: mit einem gigantisch dimensionierten mechanischen Uhrwerk, zu bestehen.
Bestehen müssen Paul und Anna ein Abenteuer nach dem anderen. Sie müssen sich scharfkantiger gläserner Zweige in einem toten Wald abgestorbener Bäume, die aber noch über Augen und sogar Ohren verfügen, erwehren, farbenprächtigen Schwefelquellen ausweichen und möglichst nicht in eine der zahlreichen Netzfallen der Hexe tappen. Dabei hilft ihnen ein frecher kleiner, aber zeigerloser Wecker (Joachim Kaps), auch wenn dieser sich in brenzligen Situationen als großmäuliger Feigling erweist. Als sie in einem der Fallen einen mutlosen Ritter von der traurigen, da rüstungslosen Gestalt namens Friedhelm vorfinden, den Andante sogleich als verschollenen Herrn erkennt, müssen sie diesen aus der Zeit gefallenen Anti-Helden erst einmal psychisch stabilisieren, um mit ihm als weiteren Streiter rechnen zu können im Kampf mit der Hexe. Diese nutzt den immer wieder aufkommenden Streit unter den Kindern für eigene Zwecke, schlüpft sogar in die Gestalt Annas. Andantes feine Nase entlarvt jedoch den Schwindel und Paul erweckt die eingeschläferte Anna mit einem wahren Dornröschen-Kuss. Für die Hexe ist im wahren Wortsinn ihre Uhr abgelaufen...
„Wir kämpfen nicht, wir sehen fern“: Günter Meyer, ausgewiesener Spukfilm-Experte vor und nach der Wende, stichelt immer wieder gegen das Medium, das dem Kino die Zuschauer wegzunehmen droht. Übrigens ein bei der Defa beliebter Topos, obwohl die Babelsberger einen erheblichen Teil ihres Budgets aus TV-Koproduktionen erwirtschaften. Was dann auch zum Untergang der Defa beiträgt nach der mit der Auflösung des Deutschen Fernsehfunks einhergehenden „Wiedervereinigung“ der Rundfunksenderlandschaft im neuen Deutschland.
Die Fülle des Ideenreichtums binnen 79 Minuten auf Breitwand und in Farbe lässt bei einem vergleichsweise schmalen Budget von 1,5 Millionen D-Mark staunen. Allein die Höhle der Hexe hinter der Potemkinschen Schloss-Silhouette mit schlangenbewehrtem Medusa-Haupt und verführerischer Torte muss einige Mittel verschlungen haben. Andererseits konnten die Filmemacher, wie Regisseur Günter Meyer und seine Titeldarstellerin Anne-Else Paetzold bei einer Vorführung am 16. Mai 2019 im Prenzlberger Kaffekaffe verrieten, auf den Erfindungsgeist eines Bastlers aus Suhl zurückgreifen, der das nun im Potsdamer Filmmuseum ausgestellte fahrbare Monster entwickelte.
Am Ende entsteigen zum Erstaunen des Hausmeisters nicht nur die beiden Kinder dem Fahrstuhl des Plattenbaus, sondern auch Friedhelm mit Andante am Zügel: „Ritter werden immer gebraucht“ lautet sein überhaupt nicht ironisch gemeintes Schlusswort. „Olle Hexe“ sei, so die sich an die dreistündige Tortur in der Maske noch mit Schauern erinnernde Anne-Else Paetzold im Gespräch mit Uwe Noske, ein sehr poetischer Film, aber gleichzeitig sehr nah an der Realität. Viele witzige Anspielungen der Vor-Wende-Zeit hätten freilich 1991 nicht mehr gezündet: das auf Zwischentöne spezialisierte DDR-Publikum hatte nun andere Sorgen – und ließ sich von der spektakulären Welt des amerikanischen Kommerzkinos verführen.
Die apokalyptischen Landschaften waren im Übrigen ganz reale, gedreht in einer ausgekohlten Halde des Kraftwerks Boxberg unweit von Lübbenau im Spreewald sowie in einem toten Wald in Tschechien. Günter Meyer, der die beiden großartigen Kinderdarsteller selbst gecastet hat, ein bei der Defa durchaus übliches Verfahren, wusste zu berichten, dass weder der als Paul so zurückhaltend agierende Tobias Gottschlich noch die als Anna so witzige wie forsch-zupackende
Anne Szarvasy später den Schauspieler-Beruf gewählt haben.
Pitt Herrmann