Thomas Mitscherlich

Darsteller, Regie, Drehbuch, Kamera, Ton, Produzent
Heidelberg Oberstein (Allgäu)

Biografie

Thomas Mitscherlich wurde 1942 als viertes Kind der Mutter Georgia Mischerlich und als sechstes Kind des Vaters Alexander Mitscherlich in Heidelberg geboren. Die Mutter war Pianistin, der Vater bei der Geburt Arzt, dann später zusätzlich Psychoanalytiker und Hochschullehrer.

1960-61 assistierte Thomas Mitscherlich dem Dramaturgen Claus Bremer am Stadttheater Bern. Danach absolvierte er eine Lehre im Suhrkamp-Verlag in Frankfurt/Main. Daraus ergaben sich Tätigkeiten im Suhrkamp-Theater-Verlag. Während dieser Zeit war er Mitarbeiter der "Neuen Bühne" und der Zeitschrift "Neue Kritik". 1965-66 arbeitete er als Volontär bei der Nachrichtensendung "Report" des Bayerischen Rundfunks in München.

Seine ersten beiden Kurzfilme "Haus der Endlösung" (1966) und "Geld" (1968) entstanden während des Studiums 1966-69 an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. In seinem ersten Film setzte sich Mitscherlich auf Anregung seines Lehrers Erwin Leiser als erster Filmstudent mit dem Haus in Berlin/Wannsee auseinander, in dem die "Endlösung der Judenfrage" beschlossen wurde. Sein zweiter Film behandelt auf satirische Weise seine Erfahrungen mit dem SDS. Er war in dieser Zeit Mitglied des Studentenrates wie des Akademischen Rates der Akademie. Der Film fixiert den SDS auf das Kapital und auf den Film "Viva Maria", der als "großes Vorbild für die "subversive Aktion" galt. Mitscherlich machte daraus die "Analogie zwischen Geld und Scheiße beim analen protestantischen Charakter. Resultat: Keiner wollte ihn sehen." (Mitscherlich, Zwischenbilanz 1985)

1970-71 war Mitscherlich Fachberater an der Deutschen Film- und Fernsehakademie. In dieser Zeit entstand der Dokumentarfilm "Ausbildung als Ausbeutung" (1970). 1971 drehte Mitscherlich seinen ersten längeren Dokumentarfilm für den SFB im Rahmen des Kinder- und Jugendtheaterfestivals in Berlin. "Keine Spiele zum Träumen: Ein Plädoyer für ein fortschrittliches Kinder- und Jugendtheater", dokumentiert anhand von zwei Gruppen aus Hamburg und Berlin, wie Kinder und Jugendliche Theater zu ihrer eigenen Sache machen können.

Der zweite lange Dokumentarfilm für den SFB entstand 1971-72. "Der Kampf um 11%" dokumentiert die bis dahin härtesten Arbeiterkämpfe in der BRD und rekonstruiert die Auseinandersetzungen mit den Unternehmern und innerhalb der Gewerkschaft.

In dieser Zeit holte Mitscherlich das Abitur nach und begann ein Studium der Soziologie. Von 1973-76 war er Mitarbeiter der Projektgruppe "Elternbildung im Medienverbund" des FWU, Berlin (Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht), der ein Medienpaket für Elternabende, Kindertagesstätten und Schulen erstellte. Von 1973-74 drehte er den Dokumentarfilm "Wie man Löhne macht", der sich mit der Streikwelle der metallverarbeitenden Industrie im Sommer 1973 auseinandersetzt.

1974 zog Mitscherlich mit seiner Lebensgefährtin Karin Dehnbostel nach Hannover. 1975 realisierte er den Dokumentarfilm "Wem gehört der Bauer?". Der Film versucht aufzuzeigen, wie sich ländliche Genossenschaften des 19. Jahrhunderts, gegründet als Selbsthilfe-Organisationen, zu Großunternehmen der Futter- und Nahrungsmittelindustrie entwickelt haben, in denen der einzelne Bauer immer weniger Einfluss auf die Geschäftspolitik hat.

1975 entstand aus dem Projekt "Elternbildung und Medienverbund" eine Kurzfilmserie mit 16 Folgen, welche die Entwicklung des Kindes und die Beziehung zu seinen Eltern auf verschiedenen Ebenen thematisiert. 1976 folgte die Dokumentarfilm-Produktion "Erziehen ist nicht kinderleicht...", die ebenfalls versucht, Alternativen der Erziehung an zwei Schulen in Frankfurt und Hannover aufzuzeigen.

Zusammen mit Soziologen, Politologen und Filmemachern gründete Mitscherlich 1978 in Hannover das Institut für audiovisuelle Kommunikation e.V. (IfaK), in dem er die Leitung übernahm. In Zusammenarbeit des Instituts mit dem Kooperationsbereich Universität & Arbeitskammer, Bremen ging 1978-1981 die 5-teilige Kurz-Dokumentarfilmserie "Eine Gewerkschaft von innen" hervor, die er mit dem Dokumentarfilmer Günther Hörmann drehte. 1977 und 1978 ging es in den Produktionen "Der unanständige Profit" und "...nur noch die Hälfte wert", noch einmal um den Metalltarif in Baden-Württemberg und die Selbstbestimmung der Arbeitsorganisationen.

1979 zog Mitscherlich nach Frankfurt/Main. Dort übernahm er eine filmische Langzeitbeobachtung im Zusammenhang "Humanisierung des Arbeitslebens", gefördert durch das Bundeswissenschaftsministerium für Forschung und Technologie. Es begann eine mehrjährige Zusammenarbeit mit Soziologen, Ökonomen und Arbeitswissenschaftlern. Daraus resultiert 1980-82 in Co-Produktion mit dem IfaK und dem NDR die Dokumentarfilmserie "Langes Fädchen, faules Mädchen". Der Film begleitet fünf Schneiderinnen aus der Bekleidungsindustrie und dokumentiert ihre ursprünglichen Vorstellungen von ihrem Beruf, ihre Anforderungen in Beruf und Familie und die Entwicklung, die ihre Branche nimmt.

Seit 1979 war Mitscherlich Mitarbeiter des ersten Filmfests der Filmmacher in Hamburg. Mit Rolf Schübel war er verantwortlich für den Dokumentarfilmteil "Kino für Kollegen". Bei der Entstehung des "Hamburger Filmbüros" ist er Gründungsmitglied.

1980 zog Mitscherlich nach Hamburg und war ständiger Mitarbeiter bei dem Aufbau des Hamburger Filmbüros und seit 1983 Mitglied des Auswahlgremiums der Hamburgischen Filmförderung. Von 1984-1987 war er Vorstandsmitglied im Hamburger Filmbüro und war 1986 Verwaltungsratsmitglied der Verwertungsgesellschaft VG Bild-Kunst. Darüber hinaus war er von 1984-1987 Lehrbeauftragter an der Fachhochschule für Gestaltung in Schwäbisch Gmünd. 1982-1984 entstand der Essayfilm "Vater und Sohn", in dem sich der Regisseur zum ersten Mal selbst zu Wort kommen ließ. Es ist das Gespräch zwischen dem Soziologen/Filmemacher und seinem Vater, dem berühmten Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich.

In diesem Jahr erstellte Mitscherlich zu der Veranstaltung der SPD "Nürnberger Friedensgespräch" acht Kompilationsfilme, welche die Programmblöcke einleiten sollten: Städteporträts von acht europäischen Städten, die im 2. Weltkrieg zerstört wurden. Ausgangsmaterial waren Wochenschauen und anderes historisches Film- und Fotomaterial. Nach der Dokumentarfilmserie "Untergang der AG Weser" (1984) wieder in Zusammenarbeit mit Günther Hörmann und dem Kurz-Kompilationsfilm "Der 8. Mai", folgte 1988 der Zweiteiler "Der Bunker": Ein Dokumentarfilm über den Bau eines gewaltigen U-Boot-Bunkers in Bremen während des Zweiten Weltkrieges, der allerdings nicht mehr fertiggestellt wurde. Zeitzeugen, frühere Arbeiter, KZ-Häftlinge sowie Kriegsgefangene berichten im Film von ihren Erinnerungen.

Nach dem Kurzfilm "September" 1989 entstand in Kooperation mit dem Animationsfilmer Franz Winzentsen 1988-1989 der erste Spielfilm mit Animationsteilen "Der Fotograf". Es ging hier um die scheinbare Wahrheit, die sich jedem einzelnen Betrachter eines Mediums anders offenbart. Fotografien eines Vaters von der Geschichte einer Großwerft von den Anfängen bis zu ihrem Untergang werden in enger Verbindung mit der deutschen Geschichte dargestellt. Im Gegensatz zur Sichtweise des Vaters hinterfragt der Sohn die oberflächliche Darstellung der Fotos und interpretiert sie im geschichtlichen Kontext. Bei der späteren Entdeckung der Fotosammlung der jüdischen Freundin des Sohnes aus New York stellen sich die Fotos zwischen die Liebe der beiden. "Das Ergebnis ist ein über weite Strecken faszinierendes, fotografisches Vexier-Kammerspiel." (Süddeutsche Zeitung, 4. September 1989)

Mitscherlich übernahm von 1989-1997 die Co-Leitung am Bremer Institut Film Fernsehen. 1993 entstand der zweite Spielfilm "Die Denunziantin" mit Katharina Thalbach in der Hauptrolle. Erzählt wird die Geschichte von Helene Schünzel, die den zivilen Kopf der Verschwörung, Carl Goerdeler, des gescheiterten Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 denunziert. Nach dem Krieg wird sie gesucht, selbst denunziert und zu 6 Jahren Zuchthaus verurteilt.

Mitscherlich drehte 1995 einen Film über ein Leben nach den Lagern. "Ruth Krüger. Weiterleben nach Auschwitz" (1995) porträtiert die in Wien geborene Ruth Krüger, heute Literaturprofessorin in den U.S.A, und ihre Erfahrungen nach Theresienstadt und Auschwitz. Der Dokumentarfilm zeigt zugleich weitgehend unbekanntes Material von Kameramännern der US-Army der Befreiten in "Displaced Person Camps" in Deutschland.

Sein letztes realisiertes Projekt "Reisen ins Leben. Weiterleben nach einer Kindheit in Auschwitz" (1996), knüpft inhaltlich an das Dokumentations-Material der US-Army aus dem letzten Film an. In dem Dokumentarfilm erinnert sich ein Kameramann der US-Army an die Befreiung der Lager und an die "Displaced Person Camps". Er spricht über seine Archivbilder, seine Gedanken und seine Gefühle von damals und heute. Ergänzend berichten drei Überlebende von ihren "Reisen ins Leben". Sie schildern die fortgesetzte Ausgrenzung, die sie nach Auschwitz erfuhren.

Mitscherlich entwickelte 1998 das Filmprojekt "Asien in Mitteleuropa" im Zusammenhang mit dem Forschungs- und Dokumentationsschwerpunkt Cinematografie des Holocaust des Fritz-Bauer-Instituts Frankfurt/Main. Es ging um das "Bild als historische Quelle" und die heutige Sicht auf jüdisches Leben im Zweiten Weltkrieg. Ausgangsmaterial waren Aufnahmen eines amerikanischen Kameramannes und Filmmaterial der Nationalsozialisten. Deutlich wird die Kluft zwischen dem Blick der Nachkommen der Täter und der Nachkommen der Opfer.

Mitscherlich legte in seinem letzten Lebensjahr in Kooperation mit Brigitte Kramer den Projektentwurf für ein Filmessay zu Wolfgang Amadeus Mozart vor: "Im Auftrag des Himmels" soll anhand des berühmten Komponisten das Phänomen des Mythos untersuchen.

Am 18. März 1998 starb Thomas Mitscherlich im Alter von 55 Jahren an Herzversagen.