Inhalt
"Der Räuber" erzählt die Geschichte eines vielseitig begabten Mannes: Johann Rettenberger, erfolgreicher Marathonläufer und Serienbankräuber. Nüchtern und präzise misst er Herzfrequenz, Belastung, Ausdauer und Effektivität – bei Trainingsläufen ebenso wie bei den Banküberfällen, nach denen er, aberwitzig maskiert und mit einer Pumpgun bewaffnet, vor der Polizei flüchtet. Er lebt unentdeckt mit seiner Freundin Erika in Wien, zieht immer wieder aus, leidenschaftlich und gierig nach dem Trip, der Bewegung und der Schönheit des Raubzugs, bis zu drei Mal an einem Tag. Als er entdeckt wird, tragen ihn seine Beine vor einem gewaltigen Polizeiaufmarsch davon. Einer wie er kann kein Ziel haben: Reine, beständige Bewegung ist der Zustand, auf den der Räuber zuläuft. Weiter, immer weiter führt ihn seine Flucht, an ein Ankommen ist nicht zu denken.
Benjamin Heisenbergs zweite Regiearbeit nach "Schläfer" basiert auf dem gleichnamigen Roman von Martin Prinz, der auf einer wahren Begebenheit der österreichischen Kriminalgeschichte beruht. Er porträtiert den Räuber als Hochleistungssportler seines Fachs, als Endorphin-Junkie, als Liebenden und Freiheitssucher. Benjamin Heisenberg: „Ich sehe ihn als eine Art Naturphänomen, getrieben von einer inneren Energie, die ihn dazu bringt, Bankraub und Laufen zu einem Extrem zu treiben. Andererseits hat er aber auch das Bedürfnis nach Leben, Liebe, Berührung und Beziehung – das widerspricht sich dramatisch.“
Quelle: 60. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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Rettenberger wird trotz zweier Ausbruchsversuche nach sechs Jahren in die Freiheit entlassen. Warum er eingesessen ist, bleibt im Unklaren. Er bezieht am Rande der Inneren Stadt eine kleine Etagenwohnung mit Blick auf die Bahngleise des Bahnhofs Wien-Mitte. Wir sehen ihn als nächstes einen dieser Vorortzüge besteigen, die den durchtrainierten Langläufer hinaus ins Grüne bringen. Auf einem Park-and-Ride-Platz knackt er professionell ein Auto und fährt mit diesem zu einer Bank irgendwo im Wienerwald: Das Gesicht hinter einer entfernt an den US-Präsidenten Ronald Reagan erinnernden Faschingsmaske verborgen gelingt der handstreichartige Überfall quasi im Vorübergehen.
Anderntags sitzt Rettenberger im Arbeitsamt, wo er auf seine „Ex“ Erika trifft, bevor er in voller Jogging-Montur die Prater Hauptallee entlang läuft. Das Training im Häfen hat sich ausgezahlt, den Wien-Marathon gewinnt er mit Landesrekord und hat dabei die ganze europäische Elite hinter sich gelassen. Sein Bewährungsbeamter macht sich dennoch Sorgen: Johann hat über die Jahre hinter Gittern weder soziale noch familiäre Kontakte gepflegt, weshalb er einen Rückfall befürchtet. Doch Rettenberger nimmt Erikas Angebot an, in der geräumigen Wohnung, welche sie nach dem Tod ihrer Mutter allein bewohnt, ein eigenes Zimmer zu beziehen. Und die beiden kommen sich rasch wieder näher, obwohl Erika, wie Johann später zufällig bemerkt, noch ein weiteres Verhältnis am Laufen hat.
Immer wenn Rettenberger mit seiner großen Sporttasche zum Training in freier Natur unterwegs ist, wird eine weitere Bankfiliale überfallen. Stets nach dem gleichen Schema, wobei das Fluchtfahrzeug auch gern dem Besitzer regelrecht abgejagt wird, gern mit laufendem Motor etwa beim Öffnen des Garagentores oder dem Verstauen von Einkäufen im Kofferraum. Die Kamera nimmt das Geschehen mit gewissem Abstand wahr, dokumentiert es sozusagen. Benjamin Heisenberg, 2009 mit dem Bayerischen Filmpreis in der Kategorie „Bester Nachwuchsregisseur“ ausgezeichnet, hat mit „Der Räuber“ einen lakonisch-spröden Film gedreht, der seinen Protagonisten als Endorphin-Junkie zeigt, den es auch aus einem Freiheitsdrang heraus in die Wälder treibt – und zu Überfällen, welche seine finanzielle Unabhängigkeit sichern sollen. Rettenberger ist kein brutaler Typ, keiner, der seine Opfer absichtlich in Angst und Schrecken versetzt. Und dennoch wird der Bewährungsbeamte sein erstes Todesopfer: er hat Rettenberger zu sehr bedrängt.
Als Erika im „Standard“ einen ganzseitigen Bericht über den Serien-Bankräuber liest, der mit Fotos aus mehreren Überwachungskameras bebildert ist, schöpft sie Verdacht. Und findet unter seinen Sachen Geld, Maske und die Pumpgun. „Das, was ich mache, mit dem musst du leben“ ist sein knapper Kommentar zur Enttarnung. Aber Erika fragt sich: „Wohin gehör‘ ich?“ Johann muss sich jedenfalls eine eigene Bleibe suchen. Und setzt sein Doppelleben unverändert fort. Erst als der Beamte mit Rettenbergers Siegerpokal eines Gebirgslanglaufes erschlagen aufgefunden wird, zieht Erika endgültig einen Schlussstrich: Nachdem Johann nicht bereit ist, sich zu stellen, verrät sie der Polizei seinen Aufenthalt.
Der „Räuber“ wird im Hotelzimmer verhaftet, kann den Kieberern jedoch auf der Wache entkommen und in den Wienerwald fliehen, wo er sich wie ein gehetztes Wild erst in einem Felsspalt, dann im Haus eines Rentners versteckt. Bei einer Auseinandersetzung mit ihm durch einen Messerstich verletzt setzt er sich in dessen Auto ab. Aber nun ist die Polizei nicht mehr von seiner Fährte abzubringen, selbst eine letzte Finte auf der Autobahn hilft dem entkräfteten, am Ende halluzinierenden Verwundeten nicht weiter. Ein letztes Mal hört er übers Handy die Stimme Erikas...
Der Film hat, obwohl von Heisenberg und Andrea Wagner rasant geschnitten, dokumentarischen Charakter. Denn man kommt dem Menschen hinter der Maske, der nach seinen Trainingseinheiten exakt die Herzfrequenz und andere eigene Körperwerte misst, nicht wirklich näher. Die knappen Dialoge Johanns mit seiner Freundin Erika gehen selten über alltägliche Belanglosigkeiten hinaus. Und man fragt sich schon mit dem Regisseur, wie die historische Person Johann Kastenberger seinen unbändigen Freiheitsdrang, den er vornehmlich beim Laufen in der freien Natur ausgelebt hat, in Einklang bringen wollte mit seinem Wunsch nach einer innigen, festen Beziehung zu seiner Freundin. Die TV-Erstausstrahlung erfolgte am 30. Oktober 2015 auf Arte.
Pitt Herrmann