2019 zeigt "NATIVe – A Journey into Indigenous Cinema" 16 lange und kurze Spiel- und Dokumentarfilme aus der Pazifikregion. Charakteristisch ist dabei die lässige Selbstverständlichkeit der weiblichen Präsenz vor und hinter der Kamera: Allein beim Eröffnungsfilm Vai führen acht Frauen Regie.
"Die Bandbreite an Geschichten und die unterschiedlichen Bildsprachen, die die Berlinale insbesondere auch mit dem NATIVe-Programm Jahr für Jahr präsentiert, sind in einer internationalen Filmwelt unentbehrlich. Wir wollen die eigenen Geschichten der indigenen Filmemacher*innen sehen, nicht Filme, die über sie gemacht werden", kommentiert Festivaldirektor Dieter Kosslick.
"Vai denkt an uns alle – an ihre eigene Tochter aber auch an deine und an alle Töchter, die noch kommen werden", sagt eine Nebenfigur in Vai über die namensgebende Protagonistin. In sieben Episoden auf sieben Inseln erzählt das Regiekollektiv aus acht indigenen Regisseurinnen Vais Lebensgeschichte(n). Begleitet von einer dichten Kameraführung wechseln Darstellerinnen, geografische und soziokulturelle Kontexte. Das Individuelle wird zur universellen Erfahrung, das Alltägliche passiert an einem Ort und doch überall zugleich.
"Merata: How Mum Decolonised the Screen und She Who Must Be Loved" zeigen zwei herausragende indigene Frauen mit einem Ziel: die Medien zu indigenisieren. Hepi Mita sucht im Lebenswerk seiner verstorbenen Mutter Merata Mita, der einflussreichen ersten Maori-Regisseurin und politischen Aktivistin, Antworten auf unbeantwortet gebliebene Fragen. Und in Erica Glynns "She Who Must Be Loved" weist Freda Glynn ihre Tochter direkt zu Beginn an: "Ich mache hier normalerweise mein Ding. Du kannst mir doch nicht den ganzen Tag mit der Kamera auf der Pelle hängen." Untrüglich, dass Freda nicht nur die Frau ist, die in den frühen 1980er-Jahren CAAMA, die bedeutendste Aboriginal Medienorganisation Australiens, mitbegründete, sondern auch eine wunderbar eigensinnige Matriarchin.
Dass willensstarke Frauen der rote Faden im NATIVe-Programm sind, bestätigen die NATIVe-Co-Kuratorinnen Maryanne Redpath und Anna Kalbhenn: "Dennoch zeigen die Filme, häufig vor trügerisch paradiesischer Inselkulisse, auch deutlich eine Halt- und Orientierungslosigkeit. Verantwortlich dafür sind oft jüngere, weniger diskutierte kolonialistische Praktiken, Arbeitsmigration und durch Umweltveränderungen erforderliche Anpassungen der Lebenssituation. Gerade die männlichen Protagonisten der Filme kennzeichnet oft eine große Zerrissenheit."
Zum Beispiel in "For My Father’s Kingdom" (Regie: Vea Mafile’o, Jeremiah Tauamiti): Der Familienvater Saia hat Tonga einst als Held verlassen. Nach Jahrzehnten in der neuseeländischen Diaspora spendet er weiter all sein Geld an die Kirche der alten Heimat – und verschuldet so sich und seine Familie. Heimat(losigkeit) diskutiert auch "Out of State". Regisseurin Ciara Lacy begleitet in ihrem Dokumentarfilm hawaiianische Straftäter, die erst im Gefängnis in Arizona ihrer Kultur wieder näher kommen.
Mit einer intensiven Ästhetik spürt NATIVe-Berater Kanakan-Balintagos, auch bekannt als Auraeus Solito, seinen indigenen Wurzeln in "Busong" (Palawan Fate) nach. Nicht chronologisch erzählt, wechseln und verschwimmen hier Legendarisches und Reales, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Mit mehreren Wort- und Sonderveranstaltungen setzt NATIVe 2019 die erfolgreiche Zusammenarbeit mit der Botschaft von Kanada in Deutschland und der Klimainitiative REKLIM am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, fort. Der NATIVe-Stand auf dem European Film Market (EFM) bleibt wichtige Marktpräsenz für indigenen Film und indigene Filmemacher*innen aus aller Welt.
Filmprogramm:
Langfilme NATIVe:
"Busong" (Palawan Fate)
von Kanakan-Balintagos, Philippinen 2011
Eine fantasievolle Verfilmung indigener Legenden auf Palawan. "Busong" bezeichnet das Schicksal, über das der Einzelne nicht Herr ist.
"For My Father’s Kingdom"
von Vea Mafile’o, Jeremiah Tauamiti, Neuseeland 2019
Dokumentarische Form
Weltpremiere
Die Kirche von Tonga fordert Spenden, auch von denjenigen, die das Land verlassen haben. Der sehr persönliche Dokumentarfilm begleitet die Familie von Saia Mafile’o, der nach Jahrzehnten in Neuseeland sein Leben und sein Kapital ganz der Heimat verschreibt.
"Mababangong bangungot" (Der parfümierte Alptraum)
von Kidlat Tahimik, Deutschland / Philippinen 1977
Kidlat Tahimiks Debütfilm von 1977 verwebt in fantasievoller Montagetechnik Heldenreise mit Schelmenstück, Fortschrittsbestrebungen mit postkolonialer Kritik und den Alltag als Arbeitsmigrant in Paris mit der Lebensweise in Balian auf den Philippinen.
"Merata: How Mum Decolonised the Screen"
von Hepi Mita, Neuseeland 2018
Dokumentarische Form
Europäische Premiere
Merata Mitas Leben zeugt davon, dass das Persönliche politisch ist. Mittels Archivmaterial, Interviews mit ihr und Erinnerungen ihrer Kinder und Kolleg*innen zeichnet der Film ein intimes Bild von Leben und Arbeit der radikalen, ersten Maori-Filmemacherin.
"One Thousand Ropes"
von Tusi Tamasese, Neuseeland 2017
Der Geist Seipua sucht Maea heim, der alleine lebt, nachdem sein aggressives Verhalten ihn von seiner Familie entfremdet hat. Als seine Tochter zu ihm zurückkehrt, bemüht er sich um die Beziehung zu ihr. Eine Geschichte über den Umgang mit Gewalt und Reue.
"Out of State"
von Ciara Lacy, USA 2017
Dokumentarische Form
Der Dokumentarfilm zeigt die Rückkehr zweier Kanakan-Maoli-Männer zu ihren Familien auf Hawaii. Die Haftzeit hat es ihnen ermöglicht, Zugang zu den eigenen Traditionen und Wurzeln zu finden. Wie gestaltet sich das Leben nach der Entlassung?
"She Who Must Be Loved"
von Erica Glynn, Australien 2018
Dokumentarische Form
Internationale Premiere
Erica Glynn ergründet Lebensweg und Lebenswerk ihrer Mutter Freda, einer Wegbereiterin der indigenen Medienlandschaft in Australien. Familie und Kunstschaffen, Geschichte und Geschichten verschmelzen in diesem intimen Porträt einer eigensinnigen Frau.
"Tanna"
von Martin Butler, Bentley Dean, Australien 2014
Angesichts des Konflikts zwischen den Yakel und den Imedin scheint die Beziehung zwischen Wawa und Dain unmöglich. Der preisgekrönte, mit Laiendarsteller*innen gedrehte Film geht den Gesetzen von Natur und Gesellschaft nach, die über das Inselleben von Tanna bestimmen.
"Vai"
von Becs Arahanga, Amberley Jo Aumua, Matasila Freshwater, Dianna Fuemana, Mīria George, ‘Ofa-Ki-Levuka Guttenbeil-Likiliki, Marina Alofagia McCartney, Nicole Whippy, Neuseeland 2019
Weltpremiere
Das Erwachsenwerden als indigene Frau auf den südpazifischen Inseln ist vom Wandel bestimmt. Jede Insel ist anders, doch alle verbindet eine gemeinsame Geschichte. Vai ist überall, wo sie hinkommt, eine andere und bleibt doch stets ihrer Herkunft verbunden.
Kurzfilme NATIVe:
"Blackbird"
von Amie Batalibasi, Australien 2015 – 13’
Während der Zwangsarbeit auf einer Zuckerplantage flüchten sich Kiko und Rosa in Gedanken in ihre Heimat. Das historische Drama widmet sich der Geschichte der Sklaverei in Australien und der Zwangsumsiedlung von Bewohner*innen der pazifischen Inseln.
"Liliu"
von Jeremiah Tauamiti, Neuseeland 2018 – 17’
Weltpremiere
Solo arbeitet als Gerichtsdolmetscher für die neuseeländische Kolonialmacht. Als eine Samoanerin ihr Urteil nicht akzeptiert und Vorherrschaft und Rechtsprechung Neuseelands in ihrem Land ablehnt, erinnert sich Solo an seine Zugehörigkeit.
"Memoria"
von Kamila Andini, Indonesien 2016 – 35’
Flora ahnt, dass ihre Mutter sexuelle Gewalt erfahren hat. Die vergangenen Geschehnisse belasten die Beziehung der beiden. Als Flora heiraten will, muss Maria sich ihrer Tochter gegenüber öffnen.
"Snow in Paradise"
von Justine Simei-Barton, Nikki Si'ulepa, Neuseeland 2011 – 9’
Die paradiesische Ruhe und das entspannte Inselleben auf Aitutaki (Cookinseln) finden ein jähes Ende, als französische Atomtests den Südpazifik erschüttern.
"Stones"
von Ty Sanga, USA 2009 – 20’
Nihipali und Na‘iwi sind die beiden letzten verbliebenen Mū-Geister in ihrem Wald auf Hawaii. Als Nihipali ein Menschenkind trifft, hebt sich der Schleier zwischen Geister- und Menschenwelt.
"Toa'ipuapuagā Strength in Suffering"
von Vea Mafile’o, Neuseeland 2018 – 10’
Internationale Premiere
Toa, eine junge samoanische Frau, hat Schnittverletzungen am Körper und beginnt zu bluten, bevor sie am Ostersonntag eine Nahtoderfahrung hat. Für viele Christ*innen in Samoa kommt darin das Missfallen Gottes zum Ausdruck.
"Va Tapuia (Sacred Spaces)"
von Tusi Tamasese, Neuseeland 2009 – 15’
Lui arbeitet täglich auf der Taro-Plantage, um Lichter für das Grab seiner Frau kaufen zu können. So gedenkt er ihr und ihrem Sinn für Schönheit. Als er Malia trifft, deren Mann kürzlich verstorben ist, versucht er mit ihr über den Verlust zu sprechen.
Quelle: www.berlinale.de