Mathematiker

DDR 1970 Kurz-Dokumentarfilm

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Heinz17herne
Heinz17herne
Die erste Einstellung des Kameramannes Christian Lehmann zeigt einen sich kontinuierlich füllenden Hörsaal der Humboldt-Universität Berlin: die neuen Mathematik-Studenten sehen ihrer ersten Vorlesung mit Spannung entgegen. Thema ihres Studiums, so die Stimme des Sprechers aus dem Off, wird die Verwandlung der Wissenschaft in unmittelbare Produktivität sein.

Schier endlose Berge von Papier birgt das Archiv der Universität – und der Kommentator fragt: „Welchen Sinn hat ihre Ausbildung für uns alle?“ Vier Studenten aus zwei Studienjahrgängen, auf die sich Richard Cohn-Vossen in seinem 24-minütigen Dokumentarfilm fokussiert, sollen die Frage beantworten, die sich angesichts knapper Ressourcen auch der Staat stellt. Die vier Mathematiker treffen sich mit ehemaligen Kommilitonen zwei Jahre nach ihrem Examen wieder und sprechen über ihre Arbeit.

Die einzige Frau aus dem Quartett ist als Problemanalytikerin bei der Reichsbahn gelandet. Der wissenschaftliche Assistent am Lehrstuhl für Diagnostik des SED-Parteiinstituts arbeitet an gesamtgesellschaftlichen Prognosen. Ein neues Arbeitsgebiet für Mathematiker, das sich auf Karl Marx berufen kann, der die Mathematik als grundlegend ansah für die Produktivität der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften.

Ein weiterer Mathematiker arbeitet an der Verbindung von Mathematik und Ökonomie. Dabei geht es um ganz praktische Fragen wie die optimierte Zerlegung von Tierkörpern oder die planwirtschaftliche Prognose des Bedarfs an Ersatzteilen für die DDR-Büroindustrie. So steht Christian Lehmanns Kamera auch in einem Schlachthof. Der dritte männliche Kollege betreibt Grundlagenforschung an der Akademie der Wissenschaften in Adlershof: Komplexe Analysen. Zugleich bildet er an der Abendschule angehende Ingenieure aus.

Richard Cohn-Vossen, gebürtiger Zürcher als Sohn eines früh verstorbenen jüdischen Mathematikers, der vor den Nazis in die Schweiz emigriert war, und einer Ärztin, brach sein Physik-Studium in Moskau zugunsten eines Kamera-Studiums in Leipzig, wo sein Stiefvater Alfred Kurella Direktor des neugegründeten Literaturinstitutes wurde, ab. Anschließend lernte er sein Handwerk bei Andrew Thorndike, der analog zu H & S und Karl Gass unter dem Dach der Defa ein selbständiges Studio für Dokumentarfilme unterhielt. Cohn-Vossen wollte mit „Mathematiker“ ein Plädoyer für die Grundlagenforschung unabhängig der staatlichen Erwartung eines Ergebnisses für die unmittelbare Anwendung halten: Mathematik als Produktivkraft, bei welcher der Disput, das Ringen um die zielführende Methodik im Vordergrund steht. Dabei kann es auch sehr produktive Sackgassen geben: führt ein Weg in eine solche, kann dieser künftig als falsch ausgeschlossen werden.

Schon fast tragisches Pech, dass der einzige Grundlagenforscher im Quartett der Protagonisten nach Fertigstellung des Films wieder herausgeschnitten werden musste: Als sich der zum Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee berufene junge Wissenschaftler weigerte, mit der Waffe an der westlichen Staatsgrenze zu dienen und möglicherweise Landsleute bei einer versuchten Flucht aus dem sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat töten zu müssen, landete er als Bausoldat im Arbeitscamp.

Co-Autor des Kommentartextes und Sprecher war übrigens der spätere Berliner SPD-Politiker und zeitweilige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der das Karl-Marx-Zitat einbrachte und dadurch den Kurzfilm der Gruppe Profil um den Produktionsleiter Dieter König überhaupt erst durch die Zensur brachte. So der Autor und Regisseur Richard Cohn-Vossen im Gespräch mit Paul Werner Wagner am 27. März 2019 im Kino Toni in Berlin-Weißensee im Rahmen des nd-Filmclubs „Dokumentarische Einblicke in Lebens- und Arbeitswelten der DDR“.

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Länge:
599 m
Format:
35mm
Bild/Ton:
s/w, Ton
Aufführung:

Erstaufführung (DD): 29.10.1971

Titel

  • Originaltitel (DD) Mathematiker

Fassungen

Original

Länge:
599 m
Format:
35mm
Bild/Ton:
s/w, Ton
Aufführung:

Erstaufführung (DD): 29.10.1971