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Erster Teil der siebenteiligen "Wittstock"-Langzeitdokumentation von Volker Koepp über das Leben und die Probleme der Textilverarbeiterinnen im Volkseigenen Betrieb für Obertrikotagen "Ernst Lück" in Wittstock/Dosse: In der brandenburgischen Kleinstadt Wittstock wird ein großer industrieller Betrieb für Textilien errichtet. Koepp wollte zunächst zeigen, wie sich das Leben der Menschen durch die Industrie verändert, wobei durch den hohen Frauenanteil im Betrieb die Probleme der angestellten Mädchen und Frauen mehr und mehr in den Fokus rücken.
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Auf einem Areal, auf dem einst 14 Handwebstühle standen, wurden im Dritten Reich Uniformen für die Wehrmacht geschneidert, wie ältere Bewohner in „Wittstock III“ erzählen. Was Volker Koepp in seinem Kommentar verschweigt: 1945 hat die siegreiche Sowjetarmee sämtliche modernen Maschinen der Textilfabriken demontiert – als Reparation für den von Hitler entfachten Zweiten Weltkrieg.
Nun entsteht seit 1974 und noch bis 1980 der Neubau des Volkseigenen Betriebs für Obertrikotagen „Ernst Lück“ für in der Endphase 3.000 Beschäftigte im Drei-Schichten-Betrieb. Über hundert Mädchen und junge Frauen, die im Mittelpunkt des Films stehen, werden werktäglich mit Bussen aus den umliegenden Orten nach Wittstock zur Arbeit gebracht. Die Textilfacharbeiterin Edith Rupp etwa kommt aus dem 30 Kilometer entfernten Pritzwalk. In der Jugendschicht arbeiten 80 um die zwanzig Jahre alte Näherinnen in der Konfektion. Volker Koepp und sein Kameramann Michael Zausch sind dabei, als die neuen Fertigungsbänder in Betrieb genommen werden.
„Der Jugend vertrauen heißt in erster Linie, ihr Verantwortung zu übertragen“: Nach dieser am Eingangstor plakatierten Losung ist der erst 20-jährigen Sabine Simnoßek als Meisterin die Leitung der Jugendschicht übertragen worden von ihrer Amtsvorgängerin Renate Strothmann, der jetzigen Leiterin der gesamten Konfektion. Sabine stammt aus einem Dorf unweit von Wittstock und muss sich erst in die neue Verantwortung einfinden. Wie die erst 18-jährige Elsbeth „Stupsi“ Wiegand, die für die Endkontrolle zuständig ist – und damit für die Qualität. Die „könnte besser sein“, gibt sie unumwunden zu.
Wie überhaupt alle Interviewpartner Volker Koepps auf seine knappen, präzisen Fragen mit großer Offenheit antworten. Das gilt für die jungen Leute, die sich über die fensterlose Fertigungshalle beklagen und den noch fehlenden Zusammenhalt der Brigademitglieder: die jungen Frauen aus den jeweilen Orten bilden Cliquen, die auch in der Freizeit und zumal an den Wochenenden zusammenbleiben.
Die Offenheit gilt aber auch für die Leitungsebene. Renate Strothmann, die aus Bernau stammt, aber als erfahrene Aktivistin aus einem Zwickauer Werk nach Wittstock abgeworben wurde, weiß um die Probleme eines neuen Betriebes, in dem es noch keine Routine gibt: „Jeder will hier Direktor spielen.“
Als Sabine erkrankt ist, übernimmt mit Stefanie Lange eine ältere Arbeiterin ihre Position. Und behält sie zunächst weiter, als Sabine wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehrt. Auf einer Versammlung der Jugendschicht legt sich die 19-jährige FDJ-Sekretärin Edith Rupp mit deutlichen Worten für Sabine ins Zeug – und zu aller Überraschung wird Sabine Simnoßek wieder als Schichtleiterin eingesetzt, während Stefanie Lange nun die Funktion der Gütekontrolleurin übernimmt. Erstere freut sich über die Anerkennung und Letztere zeigt volles Verständnis.
Mit einer großen, selbst organisierten und finanzierten Fete der gesamten Jugendbrigade wird der Grundstein zur Überwindung der Cliquenbildung gelegt. Ob es danach gemeinsame Freizeitaktivitäten wie Kino- oder Discobesuche über die Dorfgrenzen hinweg geben wird, muss sich erst noch erweisen. Jedenfalls machen die Wittstocker Jugendlichen große Augen, als die jungen Arbeiterinnen zumeist in kleinen Gruppen durch das beschauliche, um nicht zu sagen: verschlafene Städtchen flanieren.
Der 20-minütige Kurz-Dokumentarfilm „Mädchen in Wittstock“ des Defa-Studios für Kurzfilme, am 19. September 1975 im Kino-Beiprogramm angelaufen und am 6. Oktober 1978 auch im Fernsehen der DDR gezeigt, eröffnet eine schließlich siebenteilige, bis in die 1990er Jahre führende und damit singuläre Langzeitdokumentation Volker Koepps, die auch in Westdeutschland aufmerksam verfolgt worden ist. „Wittstock I“, so der nachträgliche interne Titel, wurde am 3. Juli 1977 im Internationalen Forum des jungen Films der 27. Berlinale gezeigt.
Pitt Herrmann