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Wie sicher kann ein Mensch sich selbst sein? Das ist die Leitfrage von Dominik Grafs neuem Dokumentarfilm-Essay. Angelehnt an Anatol Regniers gleichnamiges Buch interessiert sich dieser Film für Künstler*innen-Schicksale und für die unmittelbare Wirklichkeit in der Nazizeit. Wie hat es sich angefühlt, in einer Diktatur zu leben? Beleuchtet werden die Biografien und das schriftstellerische Wirken von Erich Kästner, Gottfried Benn, Ina Seidel und anderen, die, anders als die meisten zeitgenössischen Intellektuellen, in Nazi-Deutschland blieben.
Quelle: DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum
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Anpassung, Widerstand, Exil – und viele Grautöne dazwischen. Anatol Regnier, 1945 geborener, aus der Schriftsteller- und Schauspieler-Dynastie Wedekind stammender klassischer Gitarrist, Chansonnier und Schriftsteller, hat 2020 das Buch „Jeder schreibt für sich allein. Schriftsteller im Nationalsozialismus“ geschrieben. Begleitet von seinem langjährigen Freund, dem Filmemacher Dominik Graf, ist Regnier in die Katakomben des Marbacher Literaturarchivs gestiegen, hat im westlich von Toulon am Mittelmeer gelegenen Sanary Sur Mer, dem Zufluchtsort vieler Exilanten aus Nazi-Deutschland, das Zimmer Klaus Manns im Hotel de Latour besichtigt, wo dieser einen Brandbrief an Gottfried Benn verfasst hat.
Und ist in Gesprächen mit Angehörigen und Wissenschaftlern der Frage nachgegangen, wie man sich als guter, gar wie Benn überragender Schriftsteller mit dem nationalsozialistischen Regime arrangieren konnte? Denn abgesehen von den überzeugten Nationalsozialisten Hanns Johst und Will Vesper sind auch Autoren wie Erich Kästner, Hans Fallada, Frank Thiess und Ina Seidel nach der Machtübernahme Hitlers nicht dem Beispiel der Manns und zahlloser anderer in die Emigration gefolgt. Welche Haltung entwickelten sie dem Nationalsozialismus gegenüber in ihrer sog. „Inneren Emigration“ im Denken, Empfinden und letztlich auch im Schreiben?
Regnier, der als Erzähler durch die über zweieinhalb Stunden bannende Dokumentation führt, hat sich vor allem für Briefe und persönliche Zeugnisse interessiert. Und etwa hämische Bemerkungen Erich Kästners, der in der Film-Nische (Drehbuch zu „Münchhausen“,1943) überlebte, gegen Thomas Mann gefunden. Vor dem Hintergrund der Frage, ob man bei Gottfried Benn das Werk von der Person trennen kann, interpretiert der „Zeit“-Mitherausgeber Florian Illies das Benn-Gedicht „Tag, der den Sommer endet“ von 1935. Hans Fallada, der im Dritten Reich eine ambivalente Figur abgab, aber kein Nazi war, hat sich in Carwitz an der Mecklenburgischen Seenplatte ins Private zurückgezogen. Ein Sonderfall ist der mit einer Jüdin verheiratete christliche Autor Jochen Klepper, der 1937 mit dem Historienroman „Der Vater“ einen großen Erfolg landete und anonym weiterarbeiten durfte, sich aber 1942 vor ihrem Abtransport ins KZ mit seiner Gattin Hanni und ihrer Tochter Renate das Leben nahm.
Anatol Regnier spricht mit der Kunstkritikerin und -historikerin Julia Voss, der Journalistin und Schriftstellerin Gabriele von Arnim, dem Lyriker und Essayisten Albert von Schirnding, dem Historiker und Publizisten Christoph Stölzl und dem Filmproduzenten Günter Rohrbach über das komplexe Verhältnis zwischen Kunst, Leben und politischem Handeln, Anpassung und Parteinahme, Autonomie und Komplizenschaft. Und mit Heinrike Stolze, der Schwester von Bernward Vesper, über die Reaktion der Nachgeborenen: Der Sohn des völkischen Dichters Will Vesper war zeitweiliger Lebensgefährte der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin.
Dominik Graf im Presseheft: „Und niemand soll heute sagen, er hätte sich unter der blutigen Fuchtel der Nazis gewiss anders, sprich ‚mutiger‘ verhalten als die hier beschriebenen Zeitgenossen, Leidensgenossen des Wahnsinns. Je weiter wir Nachgeborenen uns von diesem Panorama des Schreckens chronologisch entfernen, umso dümmer, weil unmenschlicher werden die schlichten Urteile über diese Zeit. Dazu ist dieser Film auch da. Zu sagen: Macht es euch bloß nicht zu einfach! Hier helfen keine Moralapostelei, kein Besserwissertum und auch keine Verdrängung. Dieses Kapitel ist gnadenlos ambivalent, widersprüchlich, grausam und rührend gleichzeitig. Es ist nur allzu menschlich.“
Pitt Herrmann
"Episch" bedeutet in diesem Fall zerfasert, am Thema größtenteils vorbei und teilweise in einer herablassenden Art "inszeniert".
Hat niemand den Film abgenommen? Ist Graf mittlerweile ein Alleinherrscher-Regisseur, in dessen Umfeld keiner Kritik übt?
Erschütternd auch, wie ahnungslos und herabwürdigend die eingeschobenen "Experten" agieren.
Kästner habe sich 1945 vor dem Kriegsende in Berlin "gedrückt" (als er in Mayrhofen mit einer Filmcrew versuchte, das Kriegsende zu überleben).
Warum er in Deutschland in geblieben ist, sei ein "absolutes Rätsel". (Kästner hat die Gründe [vor allem den Bezug zu seiner Mutter] mehrfach dargelegt, dazu müsste man eben seine Texte auch lesen.)
Nahezu anekdotisch lässt sich Graf (im Off lachend) von Regnier erzählen, wie Fallada in Carwitz auf seine Frau schoss. Sehr amüsant.
Rohrbach (Film- und Fernsehproduzent), offenbar ein alter Spezi von Graf, darf weit und breit - und auch schon wieder anekdotisch - von seiner jugendlichen HJ-Faszination erzählen. Warum? Was hat dies mit dem Thema des Films zu schaffen?
Zudem räumt Graf unangemessen viel Zeit nazitreuen, drittklassigen "Schriftstellern" Raum ein.
Grafs Tiefpunkt ist Will Vesper - den er weitreichend raunend zitiert, nur um später zu dessen Sohn Bernward Vesper zu gelangen, der wiederum ein gemeinsames Kind mit Gudrun Ensslin hatte. So lässt sich also wunderbar & ausgiebig das Graf-Thema RAF umfassend mit einbauen. Es ist erschütternd.
Natürlich steht es jeder Kinobesucherin, jedem Kinobesucher frei, sich selbst ein Bild von dem Elend machen. Davon ist aber abzuraten. Diese zwei Stunden und 47 Minuten Lebenszeit darf man gern für Sinnvolleres verwenden. Kästner nochmal lesen zum Beispiel. Oder Fallada.