Die Gilge

Deutschland 1998 TV-Dokumentarfilm

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Heinz17herne
Heinz17herne
Dachdecker machen Pause und blicken hinauf zum Storchennest, in dem sich zwei Wollknäuel plustern. Das nördliche Ostpreußen zu beiden Seiten der Memel, wo Deutsche, Litauer, Polen und Juden zusammenlebten, bis ein gewisser Adolf Hitler dem nicht immer konfliktfreien, aber unter dem Strich friedlichen Miteinander ein abruptes Ende bereitete, war schon immer ein Eldorado für Weißstörche. Das gilt nach wie vor auch für Königsberg und das heutige „Kaliningrader Gebiet“, das nach dem Zweiten Weltkrieg zur Sowjetunion gekommen ist.

Nach 1945 wurde die deutsche Bevölkerung zwangsweise ausgesiedelt, und es kamen Menschen vieler Nationalitäten aus allen Teilen der Sowjetunion. Mit deren Zerfall wurde die Oblast Kaliningrad zur russischen Exklave zwischen Litauen und Polen. Wenige Kilometer hinter Tilsit, dem heutigen Sowjetsk, teilt sich die Memel in zwei Hauptarme: Ruß und Gilge, heute Matrossowka genannt. Durch die Elchniederung fließt Letztere bis ins Kurische Haff.

Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Gunther Becher filmt Kinder, die auf Panjewagen an den Fluss kommen, die Pferde ausspannen und mit ihren tief in die Fluten eintauchen. Was den Vierbeinern sichtbar weniger Spaß macht als den Zweibeinern. Störche klappern, Gänse schnattern in Bolschije Bereschki, das früher Alt Lappienen und kurzzeitig auch Rauterskirch hieß.

Die nach den Plänen von Philipp de la Chièze, der holländische Hugenotte war als Baumeister des Kurfürsten Friedrich Wilhelm u.a. am Bau des Potsdamer Stadtschlosses beteiligt, Ende des 17. Jahrhunderts errichtete Kirche ist nur noch als Ruine erhalten – wie viele einst von Deutschen bewohnte Gehöfte und Häuser. Diese steht heute auf dem Grund und Boden des 1984 aus Sibirien gekommenen Bauern Anatoli, der neben Kartoffeln auch Wein anbaut und Walnüsse erntet: „Alles wächst hier, man braucht nur gute Hände.“

„Einen Sohn zeugen, einen Baum pflanzen und ein Haus bauen – so hat mein Leben einen Sinn“: Anatoli profitierte von einem staatlichen Programm und zieht seither auf dem Fundament eines einst von Deutschen bewohnten Hauses einen Neubau hoch. Durch die rasante Preisentwicklung geht es freilich nur langsam voran. Aljoscha, sein Jüngster, lernt Schweißer. Er ist der mutige Reiter, der im Prolog zirkusreife Kunststücke auf dem Rücken seines Lieblingspferdes vollführt. Aljoschas Schwester arbeitet in einer Brotfabrik in Kaliningrad, während sein älterer Bruder Kostja Waldarbeiter ist und sich darüber beklagt, dass das zwar komplizierte, aber sehr effektive Entwässerungssystem der Deutschen seit Jahrzehnten nicht gewartet wird und so weite Gebiete, die über Jahrzehnte militärisches Sperrgebiet waren, allmählich versumpfen.

Der allgemeine Verfall in Russland wirkt sich in der Exklave besonders aus. Doch die Menschen geben nicht auf, obwohl sie schon im dritten Jahr von der Sowchose keinen Lohn erhalten haben. Wie die junge Litauerin Sina, die ihre rote Haarpracht mit Stolz trägt und auch sonst viel Wert auf ihr Äußeres legt. Die Melkerin, die täglich mit ihren Kolleginnen per LKW zu den weit verstreuten Höfen gefahren wird, lebt allein mit ihrer Tochter Jorgita. Und hat, nach zwei unglücklichen Ehen, von aufdringlichen, betrunkenen Männern aus der Nachbarschaft gründlich die Nase voll.

Als Volker Koepp mit seinem kleinen Team hierherkam, ragte der hohe Schornstein der früheren Molkerei noch in den Himmel. Nun liegt er in Trümmern: die Ziegel werden an wohlhabende Russen verkauft, die für 1000 Stück immerhin 120 Rubel zahlen. 1952 gingen die letzten Deutschen, die meisten ihrer Gebäude sind inzwischen abgerissen worden. Anastasia, die 1946 aus der westrussischen Stadt Welikije Luki hierhergekommen ist, erzählt vom freundschaftlichen Miteinander mit den Deutschen und vom jahrelangen Briefkontakt mit den dann bald Vertriebenen.

Elena „Leni“ Sokolowa geb. Ehrlich ist als Wolgadeutsche aus Kasachstan nach Gilge gekommen – und als eine der Wenigen nicht nach Deutschland ausgewandert. Ihr „Café Ehrlich“ mit angeschlossener Pension ist heute gesellschaftlicher Mittelpunkt für Feiern aller Art – und sonntägliche zweisprachige Gottesdienste auf Deutsch und Russisch.

„Strom – immer kann ich dich lieben nur“ zitiert Volker Koepp den sarmatischen Dichter Johannes Bobrowski im Prolog. Seine Dokumentation „Die Gilge – Flussfahrt in Ostpreußen“ ist ein melancholisches Porträt einer wunderschönen Landschaft, die heute wie immer wieder in ihrer Geschichte durch willkürlich gezogene Grenzen geteilt ist. Und zugleich ein nicht ganz so pessimistisches Porträt von Menschen, die auch ohne Perspektive auf wirtschaftliche Prosperität in und mit der Natur leben.

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Regie

Drehbuch-Mitarbeit

Kommentar

Interviews

Kamera-Assistenz

Schnitt

Mischung

Sprecher

Produktionsleitung

Aufnahmeleitung

Dreharbeiten

    • Juli 1998 - September 1998: Nordostpreußen entlang der Gilge
Länge:
74 min
Format:
S16mm, 1:1,66
Bild/Ton:
Farbe, Dolby
Aufführung:

Uraufführung: 01.12.1998, Südwest 3

Titel

  • Originaltitel (DE) Die Gilge
  • Weiterer Titel (DE) Flußfahrt in Ostpreußen
  • Reihentitel (DE) Menschen & Straßen

Fassungen

Original

Länge:
74 min
Format:
S16mm, 1:1,66
Bild/Ton:
Farbe, Dolby
Aufführung:

Uraufführung: 01.12.1998, Südwest 3