Der kommende Film

Guido Bagier, Film-Kurier, Nr. 7, 7. Januar 1928

Die Parzen, um die Zukunft des Films befragt, könnten nichts Besseres tun, als – dem Konzept Richard Wagners folgend – ihren Faden jäh zerspringen zu lassen. Das komplizierte Gebilde des Lichtspiels, halb Technik, halb Phantasieprodukt, halb tüchtig gehandelte Ware, entzieht sich bereits im Stadium seiner Geburt einer genauen Analyse. Wie sollte die fernere Entwicklung dieses mystischen Geschöpfes sich nur annähernd voraussagen lassen? Eines ist gewiß: Das Kind wuchs im Verlauf von 30 Jahren zum Mann heran, dessen Kräfte die Welt überrannten. Was Zufälligkeit, intuitive Entstehung, triebhaftes Werden ehedem war, sollte sich nun mählich zur Reife, Besinnlichkeit, Konsequenz, bewußter Evolution klären.
Man wendet sich, wird die Zukunft der Kinematographie überdacht, in erster Linie technischen Problemen und Aussichten zu; nur zu natürlich, da die Maschine die Basis dieser Materie bildet und neue Konstruktionen allein neue bildhafte Wege zu eröffnen scheinen. Man spricht immer und immer wieder von den drei grundlegenden Möglichkeiten:
Erlösung des stummen Bildes durch den Ton,
Erlösung des Schwarz-Weiß-Bildes durch die Farbe,
Erlösung des flächigen Bildes durch die Plastik.
Es ist überflüssig zu sagen, wie eifrig auf allen drei Ergänzungsgebieten gearbeitet wird, welche erheblichen Fortschritte erzielt werden konnten. Den weitesten Vorsprung gewann der akustische Film, parallel gefördert von deutschen und amerikanischen Erfindern, unter denen das Rennen die Zähigkeit Joseph Massolles zu machen scheint; ungeachtet wichtiger für die Praxis und Wirtschaftlichkeit des Gebiets wesentlicher Konstruktionen in U.S.A. Weit dahinter liegt der Farbenfilm: Sczepanik ist überholt. Herst modelt Erkenntnisse des Laboratoriums für den täglichen Gebrauch, dänische, französische Verfahren erhoffen bessere Erfolge auf additivem oder chemischem Wege. Technicolor ist trotz großartiger Ansprüche unheilbarem Kitsch verfallen. Und der plastische Film? Von ihm sind Ansätze interessanter Art festzustellen; das stereoskopische Sehen selbst wird angesichts der Unbestechlichkeit der Pupille weder durch Kompromisse, noch durch frommen Trug – Phasenverschiebung der Optik und ähnliches! – zu erreichen sein. Die Ausbeute vorübergehender Erfolge (Nebelprojektion u.s.f.) scheitern an der Kompliziertheit und Kostspieligkeit der Anlage.

Es erhebt sich die Frage: Hat der Film in seiner jetzigen Form angesichts der Machtfülle und Weite seiner Wirkung es nötig, diesen Dingen nachzujagen, die ihn vielleicht nur von seiner eigentlichen Mission abhalten? Farbe und Plastik werden Bestehendes verwirren, ja oft erniedrigen und verflachen, ohne entscheidendes Neues an dessen Stelle zu setzen; der Ton zum stummen Bilde wird andere, positive Aussichten eröffnen: er wird berühmte Staatsmänner, geniale Künstler der Nachwelt erhalten, er wird die Natur in anderem Sinne als das bewegte Spiel von Licht und Schatten beleben, er wird Mitteilungsform der Sprache von unerhörter Beweglichkeit erzeugen, er wird die Musik der Begleitung von einer zufälligen Dienerin zu einem gleichberechtigten geistvollen oder zum mindesten mitfühlenden Kameraden erheben. Aber, alles dies wird sein oder nicht sein und der Film wird seinen Gang gehen und seine Zukunft haben aus anderen Gründen heraus, aus anderen Quellen: denen der Phantasie gespeist!
Der Film steht im Mannesalter und ist der Tändelei des Jünglings müde. Vergnügungssucht, Unterhaltungstrieb, Erotik der Masse werden immer nach dem "Kino" verlangen; die Filmindustrie wird stets dieses Verlangen stillen müssen, um zu leben und leben zu lassen. Daneben aber wird, – wie sichdie Schmiere vom künstlerischen Institut, der Rummelplatz von gepflegter Geselligkeit unterscheidet, – eine neue Form des Lichtspiels sich entwickeln, die nicht der Mode der Masse, sondern der Vision des einzelnen, im besten Falle der Gemeinschaft weniger Individuen – ein Techniker, ein Maler, ein Dichter, ein Musiker; kein Verlagsdirektor, kein Superregisseur, keine Diva! – ihr Dasein verdankt. Diese Filme werden nicht abendfüllend sein, keine ausgewachsenen Lichtspiele mit Handlung, Star und Tendenz, sondern kurze, knappe Essays voller Kühnheit, Geist und Laune. Sie werden trotz ihrer geringen Herstellungskosten vorerst bestimmt kein "Geschäft" sein, aber ihre Anregung und ihre neuartige Erfassung der Wirklichkeit, fern von allem Klischee und Nachgeplappertem, wird die ganze übrige, trägere und traurig konventionelle Masse der Kinematographie, je langsamer, desto heftiger durchdringen. Und bald wird die schmale Zuschauerschaft dieser intimen Bekenntnisse, der hergebrachten Kombination des modischen Spielfilms müde – wachsen und wachsen, bis sich die Produktion größerer Werke unabhängigen Stils geschäftlich lohnt, da sie nicht mehr für die nächsten 14 Tage oder 14 Wochen hergestellt werden muß. Und der kommende Film wird, nur auf dies Weise, eine Kunst werden wie Musik und Dichtung, die alle Sphären durchlaufen: Von Tingeltangel, Songspiel bis zum abstrakten Gefühl – vom Couplet, kecker Strophe, lockerer Lyrik bis zu tieferer Bedeutung.
Allerdings wird dieser Aufstieg langsam, ganz langsam vor sich gehen, aber die besten Dinge sind jene, die gehofft werden, und nur die Glauben haben, werden an einer "Zukunft des Films" arbeiten können!

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