Die innere Sicherheit
Die innere Sicherheit
Heike Kühn, epd Film, Nr. 2, 16.02.2001
Der Terrorismus, genauer: die Nachgeschichte des Terrorismus, ist im deutschen Kino wieder zum Thema geworden. Nach Schlöndorffs "Die Stille nach dem Schuss" erzählt Christian Petzold von einem Paar, das 20 Jahre im Untergrund gelebt hat, und seiner Tochter, die aus dem Versteck ausbrechen will.
Es ist kalt, aber die drei jungen Leute haben es nicht eilig. Die Straße gehört ihnen, kein Tourist macht ihnen in der Nachsaison die portugiesische Bettenhochburg streitig. Die beiden Mädchen haben sich viel zu sagen, sie necken ihren Begleiter, sie geben sich zum Abschied Küsschen, dann steigt eine von ihnen zu dem Jungen aufs Mofa. Noch ein Winken, fort sind sie. Eine alltägliche Begegnung, doch die 15-jährige Jeanne, die die Gleichaltrigen vom Balkon eines Apartmenthauses aus beobachtet, kann sich kaum von der Szene lösen. Ihr Gesicht gibt der Welt, die so beiläufig die Riten des Banalen zelebriert, eine tiefere Bedeutung. Was kaum erwähnenswert scheint, Jeannes Augen spiegeln es für den Betrachter von Christian Petzolds minimalistisch verdichtetem Film aus einem anderen Blickwinkel. Ist es nicht ein Glück, reden zu können, mit wem man will, ein Paar zu bilden und lachend wegzufahren?
Am Morgen hat Jeanne, kurz wie der Zug an einer Zigarette, mit einem Surfer gesprochen. Nichts Weltbewegendes: dass er Heinrich heiße, aus Deutschland komme, dass ihr Name französisch klinge. Von der Villa Stahl, die vermeintlich seinen Eltern gehört, wird Heinrich erst bei einem Wiedersehen so inständig erzählen, dass sich die Bilder in Jeannes Kopf verschieben. Als wäre sie schon dagewesen, sieht sie das festungsähnlich angelegte Haus vor sich, das zum Inbild einer emotional gefährdeten "Inneren Sicherheit" wird. Seine Mutter habe sich dort umgebracht, erklärt Heinrich, seitdem stehe die Villa leer.
Jeannes Vater hat am Schicksal anderer kein Interesse. Hauptsache, Jeanne spricht nicht mit Fremden, die Freunde werden wollen. Dennoch sehen Jeannes Eltern Clara und Hans nicht wie Moralisten aus, die einer Heranwachsenden den Flirt missgönnen. Streng genommen sehen die beiden nach gar nichts aus: Unauffälligkeit diktiert ihre Gesten, Zurückgenommenheit ihre wachsamen Züge. Ließen sie ihrer Umgebung die Zeit, sie wahrzunehmen, könnte man Claras alterslose traurige Schönheit erkennen, überlagert von Anspannung und farblosen Unisexklamotten, doch unzerstörbar. An Hans hätten Phantomzeichner Freude. Aber so markant sein Gesicht auch ist, immer ist da eine Locke, die den Zugang verwehrt, eine Bewegung, die den Eindruck attraktiven Zerklüftetseins verwischt. Spurlos gehen die beiden durch ein Leben, das nicht ihnen gehört. Wären sie Vampire, wie die Protagonisten aus Kathryn Bigelows "Near Dark", der Christian Petzold inspirierte, man wunderte sich nicht.
Auch in Bigelows Film sucht eine Familie die Normalität im Extrem, sehnt sich ein Kind danach, wie alle anderen zu sein. Doch Petzolds Gespenster kommen nicht aus der Unterwelt, sondern aus dem Untergrund. "Welcher Untergrund?", wird der türkischstämmige Heinrich Jeanne später völlig konsterniert fragen, viel später, wenn die Familie ohne Nachnamen auf der Suche nach den Sympathisanten und den Bankraubverstecken von einst in Deutschland angekommen ist, weil Diebe ihnen in Portugal Geld und perfekt gefälschte Pässe gestohlen haben. So viel später, dass Jeanne und Heinrich sich in Hamburg wiedersehen und ein Paar werden können: Eines, das das Lügen und Misstrauen der Elterngeneration auf bezeichnende Weise wiederholt. So wenig wie der McJobber Heinrich ein Kapitalistenkind ist, darf er bei Jeanne darauf hoffen, dass ihre Familie "bloß" einer Sekte angehört. Nur die Villa Stahl steht tatsächlich leer. Für kurze Zeit nisten sich die erschöpften Gespenster in Heinrichs Traum ein. Die Bedürfnislosigkeit, die sie der Welt dereinst bewaffnet verordnen wollten, verlässt sie im Luxus ihrer Nobelzuflucht. Nach 20 Jahren im Untergrund sind Hans und Clara dankbar für die Fußbodenheizung ihrer mondänen Zelle, die sie als politisch Untote weder verlassen noch mit Licht und Leben füllen können. Die Villa setzt die in sich selbst Gefangenen frei zur grausamsten Introspektion. Der ehemalige Weggefährte aus dem "intellektuellen Lager", vor ihren Augen verhaftet, die Tochter auf amourösen und anti-anti-autoritären Abwegen – in der hypermodernen Villa Stahl zeichnet sich der Grundriss deutscher Fatalität ab. Vom Alten, vom Falschen, das einst so wegweisend sein sollte, können die ehemaligen Revolutionäre so wenig lassen wie dereinst die Schönredner des Naziterrors vom Gedanken an die vermeintlichen "Errungenschaften" des Faschismus.
Als auch Jeanne vor der Wahl steht, sich nächtens wie ein Vampir davonzuschleichen, oder an Heinrichs Seite im Tageslicht die Wonnen der Gewöhnlichkeit auszukosten, ringt sie sich zu einem Geständnis durch. Die Lampe, die ihr Geliebter auf sie richtet, setzt die Verhörtaktiken der Liebe, der Familie, des Staats in eins. Die innere Sicherheit scheint allgegenwärtig – und unerreichbar für die Psyche des zerquälten Mädchens. Auf psychoanalytische Diskurse kann Christian Petzold gut verzichten, besitzt er doch die Gabe eines ebenso nüchtern wie subtil Ding- und Gedankenwelt durchdringenden Symbolismus.
Heinrichs Unverständnis, seine politische Ahnungslosigkeit, seine Unreife ist ein Schock, den Jeanne kaum verwindet. Verlässt sie die Eltern, die einen Bankraub planen, um fern der kalten Heimat untertauchen zu können, verliert sie die personifizierte Geschichte. Bleibt sie, wird es ihre Geschichte nie geben.
Wie alle Phantome sind auch Petzolds Ex-Terroristen Zwitterwesen, die am Scheinhaften ihrer Existenz kranken. Die Gespenster dem Mythos tödlicher Erlösungsbedürftigkeit zu entreißen, ist das Verdienst eines Films, der weniger nach Schuld und Sühne als nach den Konsequenzen einer vor langer Zeit getroffenen Entscheidung fragt. Dass der RAF-Terrorist Wolfgang Grams im Untergrund Marmelade einkochte und seiner langjährigen Gefährtin Birgit Hogefeld auf der Gitarre Liebeslieder schrieb, brachte Petzold dazu, die politische Tragödie der RAF als Drama einer gewaltsam unterdrückten Menschwerdung zu inszenieren.
Wann immer Jeanne von ihren einsamen Streifzügen, ob in Portugal oder Hamburg, zurückkehrt, muss sie auf das Stöhnen ihrer Mutter, das Gestammel des Vaters, das Quietschen eines fremden Bettes gefasst sein. Als liebende Eltern sind die Ex-Terroristen weniger libertinär. Wie alle Kinder soll Jeanne werden, was ihre Eltern schon sind. Die Revolution, die angesichts Jeannes Sehnsucht nach Normalität in Reaktion umschlägt, bezeugt die Tyrannei jedes Ideals. Fürs Leben glaubt Hans der aufmüpfigen, der verliebten Tochter etwas beizubringen, wenn er vom Schweigen spricht, das im Verhör die letzte Waffe des Klassenkämpfers ist. Dennoch sind die raren Gespräche der Familie nichts anderes als Verhöre. Die Eltern, die sich an den Pragmatismus einer existenziellen Kriegsberichterstattung gewöhnt haben, hören einander die Daten erfundener Lebensläufe ab. Als Jeanne wegen Heinrich zum Sicherheitsrisiko wird, erfährt sie, wie gegenwärtig ihrem Vater die Untersuchungsmethoden seiner Gegner sind. "Sie ist verliebt, und uns fällt nichts Besseres ein, als sie zu verhören", sagt Clara, aber die Zugeständnisse, die sie an das Gefühlsrepertoire einer besorgten Mutter machen kann, sind schnell aufgebraucht. Mutterliebe und Untergrundorganisation kollidieren wie die Sehnsucht nach dem guten Leben mit der Selbstverleugnung der steckbrieflich Gesuchten. Die Übersetzungen aus dem Portugiesischen, zu denen Clara die Tochter anhält, geben dem Kampf gegen das Spießertum einen Hauch von Bildungsbürgerlichkeit. Doch die Literatur, mit der sich Clara umgeben hat, ist auch nur ein Code, jedes poetische Wort Entwarnung oder Notruf. Der Film übersetzt diese Anstrengung in ein Vakuum, das weder Eltern- noch Tochterliebe durchdringen kann, jede Zärtlichkeit wie hinter Glas, jedes Lächeln eine Fremdsprache. Und doch ist da diese überwältigende Sehnsucht, noch das Schauspiel der Normalität zur Normalität zu erklären.