Die wilden Hühner
Aufstand der Küken
Sascha Westphal, Frankfurter Rundschau, 09.02.2006
Noch kann die Fünftklässlerin Sprotte ihr Leben unbeschwert genießen. Die Probleme, mit denen sich ihre Freundinnen und Co-Mitglieder der Mädchenbande "Die wilden Hühner" herumschlagen, sind ihr fremd. Ihre Mutter Sibylle beweist für so ziemlich jede ihrer Eskapaden Verständnis und hat ansonsten genug mit ihren eigenen Problemen zu tun. Selbst die kleinen Wortgefechte, die sich Sprotte mit ihrer Großmutter liefert, sind in erster Linie Spielerei, und die Zeit, die sie zusammen auf Oma Slättbergs Bauernhof verbringen, wäre ohne Streitereien wohl auch zu langweilig. Doch gerade , als Sprotte (Michelle von Treuberg) überzeugt ist, dass alles immer so weiter gehen würde, nähert sich die unbekümmerte Zeit ihrem Ende. Zum einen redet ihre von Veronica Ferres gespielte Mutter, eine frustrierte Taxifahrerin, immer häufiger vom Auswandern. Zum anderen haben ihre Freundinnen immer weniger Zeit für die gemeinsame Bande. Zu allem Übel verkündet Oma Slättberg (Doris Schade) dann auch noch, dass sie die 15 Hühner, nach denen sich Sprottes Bande benannt hat, bald schlachten werde.
Abenteuerliche Rettungsaktion
Es ist ein Sommer des Übergangs, von dem Vivian Naefe in ihrer Verfilmung von Cornelia Funkes Roman "Fuchsalarm" erzählt. Noch ahnen es Sprotte, ihre Freundinnen und die Jungen von der "Pygmäen"-Bande nicht, aber die Ereignisse, die Oma Slättbergs Ankündigung in Gang setzt, werden alles für sie verändern. Ihre Kindheit wird in diesen Sommerwochen noch nicht enden, dafür sind sie alle noch zu jung. Doch müssen sie nun plötzlich weiterreichende Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen. Ein letztes Mal können die Kinder ihre Probleme meistern, als sei alles nur ein großes Spiel. So inszenieren sie die Rettungsaktion für die Hennen, an der erstmals beide Banden gemeinsam teilnehmen, als nächtlichen Abenteuerausflug, bei dem jeder den Mut der anderen auf die Probe stellt. Doch über diesem Unternehmen liegt schon ein Hauch von Melancholie.
Wie schon Christian Züberts "Der Schatz der weißen Falken" ruft auch "Die wilden Hühner" Erinnerungen an Rob Reiners "Stand By Me" wach. Doch anders als Zübert, der mit aller Gewalt versucht hat, Reiners berühmte Stephen-King-Adaption zu imitieren und sogar ganze Handlungselemente aus ihr übernommen hat, wahrt Vivian Naefe ihre Autonomie. Sie hat sich nur von der leicht schwermütigen und etwas nostalgischen Atmosphäre dieses Klassikers des modernen Jugendfilms inspirieren lassen.
Wie Reiners ist auch Naefes Blick von einer Sehnsucht nach den Wundern der Kindheit erfüllt. So erstrahlt die Welt der "Wilden Hühner" in einem ganz besonderen Sommerlicht, das den Abenteuern der Mädchen eine magische Note verleiht und auch ein erwachsenes Publikum schnell zum Träumen verleiten kann. Wie kostbar und flüchtig die Kindheit ist, weiß man eben erst im Nachhinein; und gerade dieses von einer sanften Traurigkeit erfüllte Wissen, das in jeder Einstellung des Films gegenwärtig ist, macht ihn zu einem Juwel des deutschen Kinderkinos.
Aus Naefes Verständnis für die Träume und Ängste ihrer Heldinnen resultiert zudem eine eindrucksvolle Leichtigkeit des Erzählens. Mühelos verwebt sie Motive aus anderen Bänden der Romanserie mit der Handlung ihrer Vorlage und kann so der Geschichte um die in Lebensgefahr schwebenden Hennen noch eine größere emotionale Tiefe und Resonanz geben. Am Ende ähnelt der Film sogar eher einem Panoramagemälde, in dem verschiedene Erzählungen ihren Platz finden, als einer klassischen Jugendliteratur-Verfilmung, die sich auf eine zentrale Geschichte konzentriert. Diese episodische Struktur erlaubt es Vivian Naefe auch, ernste Themen wie Gewalt in der Familie oder die Folgen von Arbeitslosigkeit ganz ohne jeden Anflug von Sensationalismus aufzugreifen. Das leicht verzauberte Licht, das das neue Bandenquartier der "Wilden Hühner" - ein alter, auf einem überwucherten Grundstück stehender Campinganhänger -, der Welt der Erwachsenen entrückt, lässt einen von einem perfekten Universum träumen, wie es nur ein Kind erleben kann. Doch es täuscht nie über die oft bitteren Realitäten hinweg, denen sich die beiden Banden schließlich gemeinsam stellen müssen.
© Sascha Westphal