Sommer vorm Balkon
Einsamkeit hat viele Namen
Christoph Dieckmann , Die Zeit, Hamburg, 29.12.2005
Guten Morgen, Sonnenschein! Ein Sommerfilm im Winter, über die Liebe, das Leben und die arge Stadt Berlin. Die Räuberin unter den Städten mit Schlager-Soundtrack: Himbeereis zum Frühstück … Immer wieder sonntags … Er gehört zu mir wie mein Name an der Tür. Ronald heißt er und ist noch gar nicht erschienen im Leben von Katrin und Nike. Noch sitzen sie weibseinsam auf ihrem Altbaubalkon im Prenzlauer Berg. Die Sonne sinkt, die Nacht wird lau, die beiden Schönen picheln wenig Cola mit viel Korn und träumen vom kommenden Kerl.
Nike macht Altenpflege. Katrin ist arbeitslos. Aus Freiburg zog sie her, der Liebe wegen. Der Mann ist längst perdu, Katrin lebt allein mit dem zwölfjährigen Max. Der Künftige müsste zu Max passen. Die Kamera äugt vom Balkon, zur Apotheke gegenüber. Der Inhaber späht herauf. Bislang ignoriert Katrin den Biedermann. Um Mitternacht ruft sie Max’ Vater an und kübelt ihm Geburtstagsflüche aufs Band. Nike, auch schon hübsch betankt, sinniert über die Vergänglichkeit der Liebe: Für immer, dit jib’s nicht, dit Jefühl kommt von sexuellen Botenstoffen im Gehirn, nach einer Weile sind die weg. Schlagartig!
Auftritt Ronald, schlagartig, per Verkehrsunfall. Will Nike, kriegt Nike. Aber der Zuschauer beginnt heftig zu leiden. Ronald ist Teppichspediteur aus Eberswalde und eine Dumpfbacke erster Güte. Katrin leidet auch. Nike, mit Ronald befasst, lässt ihre Freundschaft schleifen. Katrin pendelt zwischen Jobsuche und Tagelöhnerei. Geht allein tanzen, kommt in Begleitung heim. Will den Typ nicht in die Wohnung nehmen, da fällt der im Treppenhaus über sie her. Katrin schreit. Max, schlaftrunken, öffnet die Tür, sieht die Mutter, halb nackt. Der Typ türmt. Katrin schleppt sich in die Wohnung, greift zum Klaren, segelt ins Vergessen.
Dresens Witz hält sich am Rande der Verzweiflung auf
Einen "heiteren Film über Einsamkeit" hat Regisseur Andreas Dresen "Sommer vorm Balkon" genannt und die Hoffnung geäußert, das Publikum werde lachen wie in noch keinem seiner Filme. Ein sonderbarer Wunsch, bei dieser traurigen Geschichte? Dresens Witz ist Ambivalenz-Humor und hält sich gern am Rande der Verzweiflung auf. Zu Dresens Durchbruch wurde 2002 "Halbe Treppe", jenes doppelte Ehedrama aus Frankfurt/Oder, das auch in Frankfurt am Main als universales Midlife-Porträt von Menschen auf der Kippe verstanden werden konnte – nicht zuletzt dank eines Westschauspielers, der danach als paradigmatischer Ossi galt: Axel Prahl.
"Halbe Treppe" war weithin ein improvisierter Film. Seine Menschen redeten und taten wie das Leben selbst. Danach begab sich Dresen vollends ins Tatsächliche und dokumentierte mit "Herr Wichmann von der CDU" den heulkomischen Wahlkampf eines ostdeutschen Nachwuchskandidaten für den Deutschen Bundestag. Unter der Losung "Zeit für Taten" sorgte Christdemokrat Wichmann für unvergessliche Impressionen der uckermärkischen Basispolitik.
Soziale Präzision ist auch in "Sommer vorm Balkon" Dresens Schlüssel zum echten Leben. Das echte Leben berlinert authentisch (Nadja Uhl als Nike, Andreas Schmidt als Ronald), es schwäbelt (Inka Friedrich als Katrin, beim heimwehmütigen Telefonat mit den Eltern), es spricht aus dem merkantilen Gelaber von Turnschuhverkäufern und Job-Beratern – Laien, die Dresen an ihren Wirkungsstätten rekrutierte.
Vor allem wohnt das echte Leben bei den einsamen Alten, die Nike tagtäglich besucht, füttert, windelt, wäscht – bei Oma Helene mit dem Akkordeon, bei dem bettlägerigen Herrn Neumann, der glaubt, er müsse zur Schule, bei Oskar, der den Kaffee vergisst und das Spülen auf dem Klo, doch niemals, wie sein Leutnant den armen Deserteur erschoss, mit dem Ruf: Das deutsche Schwert schneidet auch im fünften Kriegsjahr immer noch scharf! Aber ich hab nicht auf ihn gezielt, sagt Oskar. Nee, sagt Nike, du nich, Oskar.
Eine schöne Kraft durchwirkt die Filme des Andreas Dresen, ein Realismus der höheren Art. Er zeichnet seine Menschen bis zur Drastik, aber liefert sie nicht aus. Er begnadigt, er gibt Liebe. Er versteht die Alten wie die Kinder. Selbst das Macho-Würstchen Ronald wird begreiflich in seinem Bedürfnis nach Schutz, und die Scheußlichkeiten deutschen Schlagerschaffens klingen plötzlich wie Chansons mit Herz.
Das Drehbuch stammt vom Altmeister Wolfgang Kohlhaase. Vor einem Vierteljahrhundert erspürte Kohlhaase für Konrad Wolfs "Solo Sunny" gleichfalls das Leben rechts und links der Schönhauser Allee. Die Zeiten änderten sich rapider als die Milieus. Am Ende sitzen Katrin und Nike wieder auf ihrem Balkon. Ronald bettet sich inzwischen anderweitig. Nike erklärt: Der Mann hat sich verbraucht. Nana Mouskouri singt: "Die Welt wird sich weiterdrehn, auch wenn wir auseinandergehn." Katrin sagt: So ist das Leben.
So könnten alle Dresen-Filme heißen. Dresen sagt, sein Freund und Kollege Günter Reisch habe "Sommer vorm Balkon" als Beschreibung eines Übergangs bezeichnet: vom Sozial- zum Individualstaat, von der Fürsorgegesellschaft zu Verhältnissen, die jeden auf sich selbst verweisen. Die dazugehörige Beklemmung erzeugt der Film mit Charme und ohne Eifer. Die ideologischen Botenstoffe melden sich auf der Heimfahrt nach Pankow, durch die echte Schönhauser Allee, im Dreck der Straßenbahn, im Frost der mürben Gesichter, im kahlen Gegröl der überflüssigen Kinder. Derzeit ist Winter vorm Balkon.
© Christoph Dieckmann