Antikörper

Deutschland 2004/2005 Spielfilm

Antikörper



Horst Peter Koll, filmdienst, Nr.14, Juli 2005


Die Sprunglatte legt der Film mit einem einleitenden Zitat von Dostojewski recht hoch: „Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt.“ Ist "Antikörper" also ein existenzieller, gar metaphysischer Thriller? Er beginnt sehr spannend, düster und höchst suggestiv, aber auch ausgesprochen drastisch – „kompromisslos“, möchte man meinen: Hier will jemand offensichtlich das Kinogenre Thriller ernst nehmen und konsequent durchbuchstabieren.

Bei einem nächtlichen Routineeinsatz stößt eine Polizeistreife auf die Wohnung eines Verdächtigen, der sich als langgesuchter Serienkiller herausstellt. Dieser – er trägt ausgerechnet den Namen Gabriel Engel – malt soeben mit dem Blut seines sterbenden Opfers ein Bild: kontemplativ versunken in einer Art „heiligem“ Ritual, dem er sich nackt hingibt, was ihn freilich nicht davon abhält, sich massiv gegen den Polizeieinsatz zu wehren. Doch die tollkühne Flucht misslingt. Während die Folgen der Nacht den meisten Beteiligten pures Grauen einflößen, reagiert der ermittelnde Kommissar genregemäß abgebrüht. Er hat nun die Aufgabe, aus dem rücksichtslosen, grausamen Psychopathen die ganze Wahrheit herauszuholen – die komplette Liste seiner perversen Taten. Derweil löst die Nachricht von Engels Festnahme weit entfernt von der Großstadt im Provinznest Herzbach Erleichterung aus – hier war anderthalb Jahre zuvor ein Mädchen getötet worden, was man auch dem Serienmörder zuschrieb. Seitdem bestimmen Verzweiflung, Misstrauen, Aggressionen und Verdächtigungen das dörfliche Klima, was sich noch zuspitzt, da Polizist Michael Martens nicht an die Serientätertheorie glaubt. Martens ist ein beruflich wie seelisch überforderter Einzelgänger, tief religiös, voller Schuldgefühle, die er nicht bewältigen kann. Seine kleine Familie droht zu zerfallen, sein 13-jähriger Sohn benimmt sich seit dem Mord seltsam auffällig. So will auch Martens endlich die ganze Wahrheit wissen und reist in die Stadt, um Gabriel Engel zu sehen. Eine fatale Begegnung: Der „unschuldige“ Dorfpolizist gerät in die Fänge des unberechenbaren, raffinierten Mörders, der bald sein perfides Spiel mit ihm treibt, ihn mit seinem Wissensvorsprung manipuliert und benutzt.

„Wir sind alle Monster“, weiß der fatalistische Gabriel Engel, „die Missgeburten Gottes.“ Drastisch und ordinär, schamlos und „entgrenzt“ aus allen verbindlichen Gesetzen menschlichen Zusammenlebens, lebt er seine eigenen Vorstellungen und Exzesse aus, wobei er durchaus ein feines Gespür für die Haltlosigkeit des ungefestigten Polizisten Martens hat. In den Szenen, in denen noch alles in der Schwebe ist, noch nicht alle Wendungen krimikonform erklärt und aufgelöst sind, gelingt es dem Film am überzeugendsten, die Ambivalenz des menschlichen Daseins einzubeziehen und dem Zuschauer den Boden unter den Füßen zu entziehen. Das „diabolische“ Spiel von André Hennicke als Serienkiller forciert eindrucksvoll das provokante Außerkraftsetzen von Normen: Was ist gut, was böse? Was ist „unanständig“, was erlaubt und sanktioniert? Konsequent werden die Kategorien Liebe und Sexualität einbezogen: Liebe, bei der die Gefühle erkalten können, Begehrlichkeiten, die verdrängt und kanalisiert werden, bis sie sich um so heftiger entladen. Engels „Taktik“ besteht darin, dass er grundsätzliche Gewissheiten außer Kraft setzt: die Selbstzufriedenheit der Menschen allgemein, Martens Glauben im besonderen sowie dessen Vertrauen in seine Ehefrau und sogar in seinen heftig pubertierenden Sohn, den Martens voller Panik immer mehr ins Verbrechen involviert glaubt. Wotan Wilke Möhring spielt Martens als äußerlich eigenschaftslosen, gleichwohl von seinen Ängsten und Obsessionen gejagten Menschen als adäquaten Antagonisten zu Hennickes Killer.

Dass der Film es sich auf Dauer zu leicht macht und irgendwann aufhört, das angerissene Thema weiter aufzufächern, liegt wohl in der „Natur“ des Genrekinos – ab einem bestimmten Punkt ist alles „nur“ noch Suggestion und pure Emotion, Spannung bis zur finalen Katharsis. Dabei gelingen Christian Alvert in seinem Kinodebüt Momente von bemerkenswerter Dichte. Auch wenn er im weiten Spannungsfeld zwischen Großstadtthriller und Provinzdrama letztlich viel zu viel will, jongliert er formal weitgehend souverän mit den vielen Fäden, dekonstruiert geschickt die zeitlichen Abläufe und setzt visuell wie auditiv kluge Akzente. So bedient er weitgehend überzeugend ein Genre, das man ansonsten in Hollywood, in Europa bislang allenfalls in Schweden oder Spanien fand. Zum „metaphysical poet“ reicht es dabei freilich nicht: Bei aller bilder- und metaphernreicher Gedankenlyrik bleibt Alverts Spiel mit den „letzten Problemen“ doch zu kokett und aufgesetzt.

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