Grenze
Grenze
Hans Messias, film-dienst, Nr. 24, 25.11.2004
Im Februar 1986 treten vier junge Männer ihren Grundwehrdienst in den Reihen der Nationalen Volksarmee (NVA) an. 545 Tage Kasernenhof-Alltag liegen vor ihnen, wovon sie den größten Teil nach der Grundausbildung in Halberstadt im Sperrgebiet an der Grenze zu Westdeutschland verbringen. Nach dreimonatigem Drill obliegt es ihnen, den "antifaschistischen Schutzwall" der DDR gegen Feinde jedweder Art zu bewachen. Offiziellem Sprachgebrauch zufolge – man befindet sich immer noch mitten im Kalten Krieg – steht der Feind zwar im Westen, doch die 17– bis 20-Jährigen wissen, dass sich die eigentliche Bedrohung hinter ihrem Rücken zusammenbraut: Republikflüchtlinge, Schießbefehl (DDR-Jargon: Schusswaffengebrauchsbestimmung), Gewissensnot und ein übermächtiger Staatsapparat, der jede Unbotmäßigkeit ahndet, lassen den Alltag zu einer Bürde werden, die nur mit einer gehörigen Portion Schnoddrigkeit ertragbar ist. Der Filmemacher Holger Jancke weiß, wovon seine Protagonisten sprechen. Schließlich lässt er keine x-beliebigen Grenzsoldaten zu Wort kommen, sondern ehemalige Kameraden, deren Erfahrung er teilt. Dabei wird auch im Abstand von 17 Jahren deutlich, wie sehr der Grenzdienst das Leben aller Beteiligten geprägt hat, wie aus dem Kalten Krieg bei Fluchtversuchen ein sehr individueller "heißer" Krieg werden konnte, wenn innerhalb von Sekunden der Gebrauch der Schusswaffe erwogen werden musste.
Heimlich aufgenommene Fotos aus jenen Tagen versetzen die vier Wehrpflichtigen in die gar nicht so gute alte Zeit zurück. Trostlose Gänge und Stuben der Kaserne in Halberstadt sowie die Überreste des nunmehr völlig verwahrlosten Grenzpostens helfen der Erinnerung auf die Sprünge. Dabei ist das visuelle Konzept rasch erschöpft, auch wenn sich in den Freistellen zwischen Aussagen und Bildern mitunter entlarvende Diskrepanzen offenbaren. Seinen primären Informationsgehalt bezieht der Film aus zahlreichen Briefen, die die jungen Soldaten an ihre Familien schrieben, und die nicht nur den damaligen Sprachgebrauch Ost dokumentieren. Deutlich wird auch die Allgegenwart von Zensur, Traumata und Paranoia, die es unmöglich machte, das allgemein Bekannte in klare Worte zu fassen. So gesehen, ist "Grenze" an weiteres Beispiel für die Wichtigkeit von "oral history", die an lebendigen Objekten die Vergangenheit rekonstruiert und deren Nachwehen deutlich macht. Diese Eindringlichkeit wird ein wenig durch die aufdringliche Musik geschmälert, die besonders in der ersten Hälfte den Informationsgehalt zu überdecken droht, sowie durch erfundene Briefe an Schriftsteller wie Thomas Wolf, Hemingway, Kerouac oder Frisch, deren dramaturgische Funktion sich nicht so recht erschließen will. Aufgefangen und in den Hintergrund gedrängt wird dieses Manko durch Aussagen eines "Feindes" von einst, der den Schutzwall überwand und im Westen seine Zukunft suchte. Heute lebt der Mann in der Nähe von Magdeburg, in Wurfnähe zum ehemaligen Sperrgebiet – weit hat er es nicht gebracht, sagen die ehemaligen Grenzer. Auch dies ein Beispiel für erlebte und erlittene Geschichte.