Lost and Found
Lost and Found
Andrea Dittgen, film-dienst, Nr. 01, 2006
Dieser Kurzfilmkompilation liegen drei Prämissen zu Grunde: Nachwuchsregisseure aus Mittel- und Osteuropa drehen in ihrem Heimatland Filme, die sich mit dem Thema "Generation" auseinander setzen. Die Idee dazu kam aus Deutschland, der künstlerische Leiter des Projekts, Nikolaj Nikitin, ist Filmkritiker und Delegierter der "Berlinale" für diese Länder; im Forum der "Berlinale" wurde das Werk auch uraufgeführt. Auch sind fünf der sechs Regisseure Teilnehmer des "Berlinale Talent Campus 2004". Das gibt dem Ganzen eine Völker verbindende Komponente, auch wenn das Muster – mehrere Kurzfilme plus ein weiterer als Rahmenhandlung und optisches Trennelement zwischen den Filmen – nicht mehr originell ist, da es in jüngster Zeit bei zwei anderen deutschen Kurzfilmkompilationen ("Ten Minutes Older"; fd 35 739/fd 36 013) wirkungsvoll eingesetzt wurde. Wie immer bei solchen Projekten schwankt die Qualität erheblich; lediglich ein oder zwei Kurzfilme sind so gut, dass sie auch allein bestehen könnten.
Der eine ist "Das Ritual" von Nadejda Koseva aus Bulgarien. Er beginnt und endet damit, dass in einem Haus das Telefon klingelt. Das Haus ist leer, weil alle draußen im Freien beim Hochzeitsfest sind. Sie singen, essen, trinken, tanzen und machen Musik – und ein bisschen sieht es aus, als wäre alles bei Emir Kusturica abgeguckt. Aber die Parallelhandlung zeigt, dass es anders ist. Denn es feiern primär die Eltern und die Verwandten, junge Leute sieht man kaum – vor allem nicht das Brautpaar. Dieses gibt sich lieber fern der Heimat das Ja-Wort, besucht gerade die Niagara-Fälle, ist glücklich und ruft die zu Hause Gebliebenen an. Irgendwann hören die Eltern das Telefon doch und reden und lachen mit dem Sohn, alle anderen scheinen nicht zu merken, dass das Brautpaar fehlt, so sehr gehen sie im Trubel auf. Koseva baut nicht auf Worte, sondern ganz auf die stimmungsvollen, gegensätzlichen Bilder und reißt damit das Thema der Generationen an – für die Jungen ist die Hochzeit eine intime Sache, die sie lieber allein genießen wollen, auch eine Gelegenheit, in die Ferne zu reisen; zugleich erzählt die Regisseurin konzentriert und mit einer gewissen Spannung eine Geschichte über Toleranz jenseits von Zeit und Ort.
In "Wunderbare Vera" zeigt Stefan Arsenijevic aus Serbien-Montenegro (er gewann 2003 den "Goldenden Bären" für den besten Kurzfilm) quasi den Prozess, an dessen Ende ein solches Einverständnis zwischen den Generationen steht. Vera, seit 25 Jahren Kontrolleurin in der Straßenbahn, redet während der Tramfahrt auf ihre Tochter ein, die der Liebe zu ihrem Freund wegen nach Kuba auswandern will. Das Sicherheitsdenken der Mutter steht gegen die Abenteuerlust der Tochter. Bis die Straßenbahn plötzlich ohne Fahrer weiterfährt. Anfangs freut sich Vera über die schnelle Fahrt und kann die anderen Fahrgäste nicht verstehen, die mit Angst und Schrecken reagieren, aber auch nicht wissen, wie die immer schneller werdende Bahn zu bremsen ist. Das schafft erst ein Polizist, der vorher eher lustlos neben seinem Kollegen im Auto den Verkehr beobachtete – und stickte. Der Mann in Veras Alter ist nicht aus der Ruhe zu bringen und stellt sich mitten aufs Gleis. Um ihn nicht zu überfahren, zieht Vera an allen Hebeln und erwischt tatsächlich die Bremse. Gefahren drohen zu Hause genauso wie in der Ferne, hat sie nun gelernt, aber auch, dass sie als Frau nicht hilflos ist. Sodass sie, die von ihrem Mann verlassen wurde, der Tochter, die ihrerseits ins Wanken gekommen ist, nun den Rat gibt, auf jeden Fall nach Kuba zu fahren. Arsenijevics Film ist eine Komödie, die vom ersten Moment an funktioniert, weil die Mischung zwischen Situationskomik und den Figuren stimmt und die Geschichte sich trotz der Nebenhandlung mit den Polizisten, die anfangs nicht zum Rest passen will, nicht verzettelt und eine schöne Auflösung findet.
Die anderen vier Regisseure packen dagegen zu viele Elemente in ihre Kurzfilme hinein und verschenken dadurch gute Ideen. In "Das Mädchen und der Truthahn" muss die 18-jährige Tatjana ihren besten Freund, einen Truthahn, opfern, um die Operation ihrer Mutter zu bezahlen. Auf dem Weg in die Stadt versucht sie, den Truthahn erst davon zu jagen, dann bringt sie ihn bei ihrem Freund unter, der ihn schlachten soll. Was dieser nicht schafft. Allerdings überlebt auch die Mutter nicht. Zwar sind einzelne Szenen mit dem Truthahn originell, aber das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern wird irgendwann unwichtig. Ähnlich ist es in "Ein kurzer Moment der Stille" von Kornél Mundruzcó, wenn nach dem Tod der Mutter Bruder und Schwester sich wieder sehen, gemeinsam ins Haus ihrer Kindheit gehen und sich an ihre frühere inzestuöse Beziehung erinnern. Ein stiller, langsamer, inhaltlich überfrachteter Film, ist doch der Bruder ein Berater für Suizid-Gefährdete. Gar nicht in die Reihe passt der Dokumentarfilm "Der Geburtstag", in dem Jasmila Zbanic zwei zehnjährige Mädchen aus verschiedenen Stadtteilen in Mostar beobachtet, die am selben Tag geboren wurden. Abgesehen davon, dass die sozialen und persönlichen Unterschiede zwischen Serben und Kroaten kaum durchschimmern, trieft der Film nur so von Klischees, wenn die Mädchen mit ihrer Tanzgruppe fröhlich "Wir sind das Licht der Welt singen". Bleibt noch der estnische Rahmenfilm "Gene + Ratio" von Malt Laas: Teils als Realfilm, teils als Animation realisiert, gerät ein Mann, der seiner Frau bei der Geburt helfen will, in Trickwelten mit Strich- und 3-D-Männchen, was mit dem vorgegebenen Thema nur am Rand etwas zu tun hat.