Leben in Wittstock
Zäsuren. Noch einmal zu "Leben in Wittstock"
Klaus Wischnewski, Film und Fernsehen, Nr. 2, 1985
Wittstock 1984. Der neue Direktor ist bereits fünf Jahre im Werk und auf länger eingerichtet. Das ist mehr als die Hälfte der Zeit, die Volker Koepp, Christian Lehmann und die anderen diese kleine Stadt, die sich selbst nicht mehr ähnlich sieht und doch im Kern unberührbar, unverrückbar scheint, die Mädchen und Frauen, die hinkamen, weggingen oder blieben, entdeckten, beobachteten, befragten. In der ersten Hälfte gingen viele, Leiter wechselten nach jenem fast gesetzmäßigen Rhythmus, ehe ein neues Werk seinen Herztakt gefunden hat; viele Arbeiterinnen gingen, wechselten noch schneller – wir erfuhren, hörten, spürten es mehr in den ersten Wittstock-Filmen, als wir es sahen.
Volker Koepp "verfolgte" drei von denen, die blieben – Stupsi, Renate, Edith –, die arbeiteten, sich ärgerten, resignierten, schimpften, kritisierten, sich herumschlugen mit Schwierigkeiten, Dummheiten, mit Männern … Aber sie blieben. War das Zufall, bloß Glück, daß die Filmleute gleich am Anfang einen so "guten Griff" getan hatten? Wem man begegnet, das hängt immer auch davon ab, wen und wie man sucht. Suche nach Menschen, Interesse und Faszination, Auswahl, Antrag, Vertrauen, Partnerschaft — es ist schon etwas Eigenartiges um diese Intimbeziehung zwischen denen hinter und denen vor der Kamera … Dieser fünfte – und erklärtermaßen letzte – Film vom "Leben in Wittstock" ist deswegen so vital, informativ, sinnlich, weil er nicht nur erzählt, was er zeigt, was und wie geredet wird (und das ist schon erstaunlich viel!), sondern auch, was zehn Jahre menschlicher Beziehung, Voneinander-Wissen, Miteinandersein, großer Offenheit und auch wieder bewußter, entschiedener Verschlossenheit für alle Beteiligten bedeuten und dem außenstehenden Zuschauer mitteilen können. Der Film ist voller Unter- und Zwischentöne, Schwingungen, unmerklicher Veränderungen in Haltung, Emotion, Äußerung. Und das bei immer gewahrter Distanz, die keine Grenzüberschreitung ins plump Vertrauliche und nur Private gestattet, eine Distanz, die die künstlerische Form jenes Takts und Respekts ist, ohne die Dokumentarfilm als Kunst verkommen würde.
Wieder begegnen wir den dramatischen Momenten der Auseinandersetzung, Resignation und Anklage im Betrieb. Man erinnert sich der stirnrunzelnden Kritik, die da manches "negative" Detail hervorgerufen hatte …Nun, Jahre später, liefert der Film unter der Hand eine Lektion in Sachen Vertrauen in die realen Prozesse, die Normalität von Widersprüchen, in die Kraft und das Stehvermögen von Menschen –und in die positive, unentbehrliche Funktion der Wahrhaftigkeit in realistischer Kunst.
Der Rhythmus der fünfundachtzig Minuten über Leben in Wittstock wird von einer klugen Struktur der Zäsuren zwischen den Passagen der drei Frauen und "er Stadt", ihrer Geschichte, ihrer Landschaft bestimmt: Dramatik und Ruhe, Enge und Weite, Spannung und Ausatmen …Plötzlich kommen diese Menschen, ihre Probleme, unsere tägliche Geschichte, auch von weit her, stehen in weitem Umfeld und lassen Zusammenhänge assoziieren, von denen verbal nie die Rede ist … Am Ende erzählt der Film eine bestimmte Form des Angekommenseins, die für viele Menschen, Projekte, Orte und Dinge in diesem "Moment" ihrer und unserer Entwicklung als Ziel, Ergebnis und Glück empfunden wird und typisch ist.