Schussangst
Schussangst
Ulrich Kriest, film-dienst, Nr.8, 15.04.04
Es ist ein Glücksfall, dass "Schussangst" fast gleichzeitig mit "Elephant" (fd 35 642) startet. Wenngleich sich die Filme perspektivisch diametral entgegen stehen, zeigt sich in beiden Fällen, wie produktiv ausgefeilte ästhetische Konzepte sind, wenn man darüber nachdenken will, wie Gewalt entsteht – ohne dabei gleich auf konventionelle Erklärungsschemata zurückzugreifen oder psychologische Klippschul-Torpfosten gut sichtbar in die Handlung zu rammen. Wo "Elephant" deutlich die Opfer-Perspektive profiliert, interessiert sich "Schussangst" ausschließlich für die – hier allerdings stark vermittelte – Täter-Perspektive. Beide Filme handeln von eingeschränkter Wahrnehmung und Realitätsverlust.
Der georgische Regisseur Dito Tsintsadze hat einen Roman von Dirk Kurbjuweit adaptiert, diesen allerdings – gemeinsam mit dem Autor – auf dem Weg auf die Leinwand radikal entschlackt. Im Roman "Schussangst" (1998) geht es um den Zivildienstleistenden und Pazifisten Lukas Eiserbeck, der aus Liebe zu einer bosnischen Muslima den Mann töten will, den er für den Bosnienkrieg verantwortlich macht, dann aber durch Zufall zum Mörder an einer unbeteiligten Pastorin wird. Für seinen Film hat Tsintsadze die üppig wuchernde Romanvorlage radikal entpolitisiert und erzähltechnisch extrem subjektiviert. Konsequent wird nun aus der Perspektive des stets leicht abwesend wirkenden Lukas erzählt, der von Beginn an immer etwas abseits steht und leicht übersehen wird. Angestrengt versucht Lukas, die Zeichen seiner sozialen Umwelt zu dechiffrieren, wobei der Film dem Zuschauer die Mühe der Bewertung dieser Anstrengungen nicht abnimmt. "Schussangst" beginnt als schrullige schwarze Zivi-Komödie voller absurder Episoden. Da erkundigt sich der Nachbar einer alten Dame, die sich gerade erhängt hat, schon einmal, was sie denn zu Mittag bestellt habe. Schließlich brauche sie das Essen jetzt ja nicht mehr. Ein anderer Nachbar schwärmt von der Gemeinschaft der nordkoreanischen Gesellschaft und glänzt mit folkloristischen Darbietungen. Eine "Essen auf Rädern"-Kundin verdingt sich nebenher als Prostituierte, allerdings eher aus Menschenfreundlichkeit als aus ökonomischer Bedürftigkeit. Nur, wenn Lukas nachts durch die Kanäle seiner Stadt rudert, scheint er ganz bei sich zu sein. Doch auch dort trifft er auf einen Mann, der sich als Vorübung auf die drohende Umweltkatastrophe im Taucheranzug treiben lässt und "Toter Mann" spielt. Eines Tages lernt Lukas in der Straßenbahn die geheimnisvolle Isabella kennen, die ihm einen Zettel mit einem Hilferuf zusteckt, und rasch verliebt er sich in sie. Doch er ist viel zu schüchtern, um ihr dies zu sagen. Lieber beobachtet er sie. Was sie von ihm will, bleibt unklar. Immer wieder eilt sie von Verabredungen plötzlich davon, unvermittelt taucht sie in Lukas’ Wohnung auf. Sie hat ein Verhältnis mit einem älteren Mann. Mit ihrem Vater? Ihrem Stiefvater? Lukas beschließt – wie einst "Taxi Driver" Travis Bickle – Isabella zu retten. Der Zufall in Gestalt eines albanischen Waffenhändlers spielt ihm ein Präzisionsgewehr in die Hände, ein Kommissar bringt ihn auf eine gute Idee. Doch dann schlägt ihm das Schicksal ein Schnippchen – und jetzt muss er ein anderes Ziel für seine Kugel suchen. Doch so viel Auswahl gibt es für den sozial Isolierten gar nicht mehr.
Tsintsadze hat bereits mit "Lost Killers" (fd 34 821) einen originellen, in seiner Abgründigkeit auch gewöhnungsbedürftigen Blick auf den deutschen Alltag als Exotismus geworfen. Mit "Schussangst" legt er nochmals nach. Durch das konsequente Einlassen auf eine deutlich beschränkte Figur, die offenbar ohne Realitätssinn durchs Leben driftet, aber auch ohne äußere Anzeichen, ohne handlungsimmanenten Reflex darauf, bekommt der Film – gerade im direkten Vergleich zur vergleichsweise "geschwätzigen" Romanvorlage – Züge eines surrealen Traums. Die Einzelteile der zertrümmerten Vorlage werden in Drehbuch und Film nur schemenhaft wieder zusammen geführt, viele Handlungsfäden bleiben unverbunden. Die Leerstellen des Films sind derart nonchalant ausgestellt, dass man mitunter meint, die Darsteller selbst seien vom Gang der Dinge überrascht und in ihrer Ratlosigkeit beobachtet worden; viele Szenen und Dialoge scheinen improvisiert. Man kann das als Ausdruck einer konstitutiven Kontingenz lesen. Oder als Schicksal. Ein Präzisionsgewehr und Spezialmunition warten auf einen Finger, der den Abzug tätigt. Lukas ist in diesem teilweise extrem komischen Reigen kein Akteur, sondern eher das Objekt von Einflüsterungen, die letztlich sämtliche Kontingenzen hintertreiben: Es gibt nur ein Ziel für die Gewalt. Insofern ist Lukas nur ein Medium und damit ein später Nachzügler des Cesare aus dem "Cabinet der Doktor Caligari". So gerät "Schussangst" zum tragikomischen, sehr spröden und fast schon zärtlichen Abenteuerfilm über das beschädigte Leben in Deutschland, wo das umfassende Unbehagen in Angst-Workshops, Flucht- und Gemeinschaftsutopien und fernöstlichen Kampfsportarten professionell abgearbeitet wird.