Der Mann auf der Mauer

BR Deutschland 1982 Spielfilm

Der Mann auf der Mauer

 

J.M. Thie, Filmbeobachter, Nr. 19, Oktober 1982

Arnold Kabe hat eine Vision: Im grauen Beton der Berliner Mauer beginnt es zu knacken und zu prasseln. Ein feiner Riss wird sichtbar, der sich rasch vergrößert. Schließlich bricht er auf und die Mauer öffnet sich wie eine gewaltige Flügeltür. Kabe sieht sich selbst aus den Staubschwaden hervortreten. Gekleidet ist er wie Moses, der biblische Held aus seinen Tagträumen. Führte dieser einst das Volk Israel durch das Rote Meer ins Land seiner Väter zurück, so der halluzinierende Knabe einen bunten Zug deutscher Bürger durch die Mauer ins gelobte deutsche Land. Ob sich der Zug allerdings von Ost nach West oder von West nach Ost bewegt, bleibt ohne Belang. In Kabes Vorstellung existiert nämlich nur ein einziges, ein wiedervereinigtes Deutschland. Denn damit hätte er die reale Mauer überwunden, die zu seiner Zwangsvorstellung geworden ist. Sie verkörpert die zementierte Grenze, an der er sich reibt. "Ich steh" nicht gern vor verschlossenen Türen", hat er einmal gesagt. Angesichts der Berliner Mauer muss er sich deshalb wie eingesperrt vorkommen. Also will er auf die andere Seite! Dafür setzt er sogar die Beziehung zu seiner Frau Andrea aufs Spiel.

Die Figur des Arnold Kabe würde gut zu den "Mauerspringern" passen, wie es sie tatsächlich gibt. Damit sind Leute gemeint, die mehrfach die Berliner Mauer passiert haben, die zwischen Ost und West hin und her gependelt sind – trotz scharfer Bewachung auf mehr oder weniger verrückte Weise. In Wirklichkeit aber ist Arnold Kabe die Erfindung des Schriftstellers Peter Schneider, der 1973 durch die Erzählung "Lenz" bekannt wurde.

In seiner neuen Erzählung "Der Mauerspringer" hat Schneider Kabes Geschichte an den Anfang einer Reihe wahrer "Mauerspringer" – Geschichten gestellt. Aus all diesen Geschichten erhoffte er sich nämlich das Herausschälen einer neuen Romanfigur. Anscheinend hat er diese Figur nun in seinem Drehbuch zu Reinhard Hauffs jüngstem Film "Der Mann auf der Mauer" realisiert. Denn der Kabe im Film besitzt gegenüber dem Kabe im Buch ein klar umrissenes Profil. Wird im Buch ein Klima beschrieben, das für die Geschichte und die innere Haltung dieser Geschichte notwendig ist, so spielt sich im Film die Geschichte selbst ab.

Als der Entschluss, die Mauer zu überwinden, konkret wird, wohnt Kabe noch in Ost-Berlin. Hier sucht er den nächsten Grenzübergang auf und geht auf die Bewacher mit der Aufforderung zu: "Nehmen Sie mich fest, meine Herren, ich hege Fluchtgedanken!" Das bringt ihn in die psychiatrische Anstalt, später ins Gefängnis. Doch sein Plan funktioniert: Er wird vom Westen freigekauft. Aber kaum hat er die Mauer im Rücken, türmt sie sich neu vor ihm auf. Sie steht nun zwischen ihm und Andrea. Folglich kehrt er zurück, wird zu einem "Mauerspringer".

Selbst den Staatssicherheitsdienst der DDR narrt er. Der ostdeutsche Geheimdienst öffnet dem scheinbar willigen Informanten sogar eine geheime Tür zum Westen. Sie trägt den Spitznamen "Ho-Tschi-Minh-Pfad". Durch diese Tür schlüpft Kabe in der Folgezeit hin und her, von der Wohnung des westdeutschen Journalisten Schacht zu der seiner Frau Andrea und umgekehrt. Beginnt Kabe aber mehr und mehr seine Identität zu verlieren, so weiß Andrea im Endeffekt, wo sie hingehört – zum Osten. Als ihr Mann ihr mit dem Pass seiner westdeutschen Freundin Victoria die Flucht ermöglicht, kommt sie zwar nach West-Berlin, aber nur für eine Nacht. Irritiert sucht Kabe das Niemandsland zwischen den beiden deutschen Staaten auf – die Mauer. Auf ihr balanciert er entlang. Damit ist aus dem "Mauerspringer" ein "Mann auf der Mauer" geworden.

Vor vier Jahren hat Reinhard Hauff seinen bekanntesten Film gedreht. Er hieß "Messer im Kopf" und zeigte einen Mann auf der Suche nach seiner Identität. Gleiches passiert nun mit Kabe. Nur dass der seine Identität nicht durch eine gewaltsame Kugel, sondern durch einen gewaltsamen Kalten Krieg verloren hat. Für ihn ist die Berliner Mauer, die zwei ideologisch divergierende Welten hermetisch voneinander abriegelt, zu einem Symbol für die Mauer im Kopf geworden. Und will man die innere Mauer überwinden, muß man nach Kabes Logik zuerst die äußere niederreißen! Ein absurdes Unterfangen, gewiss, aber kaum weniger absurd als die deutsch-deutsche Problematik mit ihrer Grenzteilung in Ost und West. Was nun aber von Politikern gerne als ernstes deutsches Thema tabuisiert wird, offenbart sich in Hauffs Film in seinem ganzen kuriosen Witz. Denn beide Seiten, Westdeutschland wie Ostdeutschland, bekommen zu gleichen Teilen ihre satirischen Seitenhiebe verpasst. Dabei darf der amüsierte Zuschauer der lachende Dritte sein.

Nach "Messer im Kopf" ist dem Duo Hauff und Schneider ein neuer treffsicherer Wurf gelungen. "Treffsicher" schon alleine deshalb, weil Reinhard Hauff sein Handwerk perfekt beherrscht, seine Schauspieler ebenso sicher im Griff hat wie die Dramaturgie seines Films. Das ist nicht verwunderlich, da er mittlerweile zu den wenigen Profis unter Westdeutschlands Filmemachern zählt, die auf die Versiertheit eines eingespielten Teams vertrauen. Von den wichtigster seiner Mitarbeiter seien hier genannt Frank Brühne als Kameramann, Peter Przygodda als Cutter und Irmin Schmidt als Komponist. Sie alle stehen hinter einem Werk, das erneut ein brisantes Kapitel deutscher Gegenwart aufarbeitet – und zwar mit den Mitteln des Erzählkinos, verfeinert mit intellektueller Tiefenschärfe. Das dürfte ein breites Publikum ebenso ansprechen wie das der Kunstkinos.

In Reinhard Hauffs neuem Film rangiert nicht mehr das "Messer", sondern die "Mauer im Kopf". Will man sie überwinden, muss man zuerst die äußere, die Berliner Mauer, niederreißen. Die Art und Weise, wie Hauff dies seinen Helden Kabe versuchen lässt, hat zu einem amüsanten Werk geführt, das seinen Witz aus der Absurdität deutsch-deutscher Problematik bezieht. Intellektuelle Schärfentiefe verfeinert dabei dieses Stück Erzählkino und macht es zu einem wichtigen Film über deutsche Gegenwartsbewältigung.

 

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