Dirnentragödie
Dirnentragödie
Lichtbild-Bühne, Nr. 91, 16.4.1927
Ein düsterer, ergreifender, in die Nachtseiten des sozialen Lebens hineinleuchtender Film. Und alles überstrahlend: Asta Nielsen, noch immer eine der größten Filmdarstellerinnen der Welt, noch immer ein Wunder an Menschlichkeit und Kunst. Hier spielt sie eine alternde Dirne. Irgendein junger Bengel läuft seinen Eltern weg, schläft hungernd auf einer Bank ein und wird von ihr, die ihn mitleidig weckt, in ihr Haus genommen. Und das Wunder der Liebe zieht in ihr Herz ein. Der "Freund" wird abgelohnt und weggeschickt. Eine "Kollegin", die bei ihr wohnt; muß versprechen, ihr den Jungen nicht wegzunehmen. Sie selbst will anständig werden und kauft eine Konditorei. Während sie weggegangen ist, bringt der Zuhälter, der um seinen warmen Platz sich sorgt, den Jungen mit der Freundin zusammen, Jugend geht zu Jugend, und als die Wohnungsinhaberin nach Hause kommt, findet sie den Geliebten eingeschlossen im Zimmer der Freundin. Nun verspricht sie dem Freund alles, wenn er die andere verschwinden läßt. Er tut es und wird gleich darauf verhaftet. Und sie entgeht der Anklage wegen Mord-Anstiftung dadurch, daß sie sich tötet. Der Junge aber liegt auf den Knien vor seiner Mutter – im warmen Elternhaus.
Das ist keine sehr schwierige und keine sehr erfreuliche Handlung. Alles ist grau in grau gemalt, die Atmosphäre der Zuhälter und Dirnen, der engen Gassen und Hinterhäuser mit laufender Naturtreue gezeichnet. Ruth Goetz und Leo Heller haben das Manuskript nach einem Drama von Wilhelm Braun geschrieben und haben mit Konzession geschrieben. Der Regisseur, Bruno Kahn, gestaltet in schweren Farben diese wenigen Schicksale, die beispielhaft für eine ganze soziale Schicht einstehen und steigert die düstere Wirkung von Akt zu Akt.
Im Mittelpunkt aber steht Asta Nielsen, von der wir in kurzer Zeit die zweite Meisterleistung – nach ihrer darstellerischen Schöpfung im letzten Meinert-Film "Laster" – sehen. Ihre alternde Dirne ist eine mit letzter Genialität gezeichnete Porträtstudie. Jedes Lächeln, jede halbe Bewegung veranschaulicht eine nachfühlbare Regung der Seele. Sie ist unerschöpflich in immer neuen Einfällen, die Gestalt plastischer, greifbarer zu machen. Es sind Meisterstücke der Darstellungskunst in diesem Film, die zu den ergreifendsten der Filmkunst überhaupt gehören: so, wenn sie dem Jungen, der sich ins Bett gelegt hat, durch die halbgeöffnete Tür ein paar Zigaretten reicht und sich ins Schlafzimmer hineinziehen läßt – eine Verführungsszene, unter grausamen Bedingungen. Neben ihr hat es Hilde Jennings als junges Straßenmädchen schwer, und es bedeutet ein großes Lob, daß ihre Leistung durchaus auf guter darstellerischer Höhe steht. Insbesondere die Liebesszene mit dem Jungen ist virtuos gespielt. Homolka als Zuhälter bleibt etwas farblos und versagt im dramatischen Schluß. Der Student Werner Pittschaus hätte auch mehr Charakteristik vertragen können. Guido Seeber hat meisterhaft photographiert, insbesondere die paar Trickaufnahmen zeigen den großen Könner. Die Bauten von C. L. Kirmse sind stilecht. – Eine packende soziale Tragödie – grau wie das Regenwetter, das die ergriffenen Menschen auf der Straße empfing.