Wir leben...SM
Wir leben …SM
Hans Messias, film-dienst, Nr. 4, 19.02.04
Die Eingangssequenz soll wohl ein zu leistendes Potenzial an Aufklärungsarbeit dokumentieren: Eine erkleckliche Zahl Stuttgarter Bürger weiß mit dem Kürzel SM nichts anzufangen, jene, denen etwas dämmert, wenden sich verschämt ab, echauffieren sich ein wenig, wollen mit "diesen Kranken" nichts zu tun haben. Hier setzt Gerhard Stahls Film an, der die sexuelle Grauzone des sado-masochistischen Lustmehrwerts erhellen will und sich wohl auch als Plattform für diese spezielle Spielart der Lust versteht, die ihre "Blumen des Bösen" nicht mehr ausschließlich im Verborgenen gedeihen lässt. Bei der gewollt offensiven Darstellung ist der verklemmte Biedermann nicht willkommen, der seiner Leidenschaft in verrufenen Etablissements frönt; besser geeignet sind eloquente (Selbst-)Darsteller, die ihre "verruchten" Leidenschaften, die Lust an Schmerz, Zwang und Angst längst in ihren Alltagsleben integriert, ja zum Beruf gemacht haben.
Der Multi- und Konzeptkünstler Woschofius etwa, der mit seiner Lebensgefährtin, der Domina Lady Isis, nicht nur gediegene SM-Events arrangiert ("Night of Culture & Pain"), als Szenefotograf einen Namen hat, Skulpturen erstellt und einschlägige Messen bereist, oder Zoé, die Freundin der beiden, die sich scheinbar lustvoll zum Objekt der Begierden degradiert und gerade dadurch die höheren Weihen der Lust zu erfahren glaubt. Am Küchentisch oder während der Vorbereitungen zur gemeinsamen Performance offenbaren die drei schwarz Gewandeten ihre Lust- und Lebensphilosophie, die auf Macht und Ohnmacht basiert, den Gewalt- bzw. Unterwerfungsfantasien von Menschen konkrete Form verleihen will und sich einem allumfassenden Glücksgefühl verschrieben hat.
"Wir leben …SM" gibt sich normal, versteht sich womöglich als heilsamer Kulturschock für die Mehrzahl der Sexual-Normalos, etwa wenn Isis in ihrem Peitschenraum die Funktionsweise einer Penisklemme erklärt oder ihr Partner durch den Nachbau von historischen Folterwerkzeugen auf sich aufmerksam macht. Hier setzt sich der Film dem Unverständnis all jener aus, die Folter nicht aus ihren konkret historischen, gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen lösen können und wollen, die sich täglich gegen Unterwerfung behaupten müssen und Schmerzen wenig abgewinnen können. Dieses Unbehagen wird durch Bondage-Szenen verstärkt, in denen Frauen nach japanischem Vorbild zu von der Decke hängenden "Marionetten" verschnürt oder Brustwarzen mit Nadeln durchstochen werden oder sich Zoé in diversen "Sitzungen" gefesselt und teilweise mit verbundenen Augen Isis und Woschofius ausliefert. Immer wieder sind dabei die Gesichter der "Meister" und ihrer Sklavin in Großaufnahmen zu sehen, die Konzentration bzw. Hingabe und Lustgewinn erkennen lassen. Dennoch gelingt es dem filmisch und konzeptionell äußerst bescheidenen Dokumentarfilm nicht, Werbung für die SM-Sache zu machen. Er wird von der Szene wahrgenommen werden, deren "innerer Kreis" auf die Hervorbringung einer solchen vermeintlich "mutigen" Produktion stolz sein mag. Ähnlich verhielt es sich vor Jahrzehnten mit den ersten Schwulenfilmen, die mit weit politischerer Zielsetzung für ihre Sache warben.
Stahls Film will ein Schlaglicht auf eine Rand-Erscheinung der Gothic-Bewegung werfen, die sich im Zuge der Neo-Romantik ins öffentliche Bewusstsein drängt. Dabei werden am Rande auch die Probleme dieser Öffentlichkeitsarbeit deutlich: Als die SM-Szene 2003 eine "Delegation" zum Christopher Street Day schicken will, haben die Schwulen Probleme, die AIDS-Hilfe hat Bedenken. Zoé versteht die Diskrepanz nicht, sich als emanzipierte Frau schlagen zu lassen, findet sich nett, aber vielleicht doch pervers, schöpft im ritualisierten Schmerz Kraft für den Alltag – eine ganze Menge Widersprüche. Weit gravierender ist indes eine bewusste Auslassung des Films: Fast in jeder Szene wird deutlich, dass die drei Protagonisten nicht nur mit, sondern auch von der SM-Szene leben. Aber über Geschäft und Geld redet man anscheinend auch in diesen sich so freizügig gebenden Kreisen nicht gern – vielleicht ist hier ja eine Schmerzgrenze erreicht.