Höhenfeuer
Höhenfeuer
Franz Everschor, film-dienst, Nr. 04, 25.02.1986
Die touristische Idylle der Schweizer Berge und Almen hat viel zu tun mit der Wunschvorstellung erholungssuchender Wanderer, aber nichts mit der Realität der Menschen, die seit Generationen diese karge und harte Region bewohnen. Von dieser Realität handelt Fredi M. Murers Film. Er spielt in der Landschaft der Heidis und Meineidbauern, aber man findet in ihm weder die Gegend noch die Menschen des Heimatfilms, obwohl dieser Film mit "Heimat" mehr zu tun hat als all die Generationen possierlicher Postkartenfilme vor ihm. Wie Edgar Reitz in seiner Fernsehserie versucht hat, Form und Erzählweise aus dem Wesen einer Landschaft und aus dem Naturell ihrer Menschen zu entwickeln, zeigt sich auch Murers Stil von den (ganz andersartigen) Inhalten seiner Geschichte geprägt. Die Kamera bewegt sich weniger beobachtend als beschreibend, der Innenwelt der Personen korrespondiert ständig die Außenwelt der Natur, Szenenfolge und Schnitt bewirken eine immer dichter werdende Verklammerung von Mensch und Natur.
Es ist die Entlegenheit der Einödhöfe, in die "Höhenfeuer" entführt, eine Existenz am Rande der Zivilisation, fast schon deren Wirklichkeit entrückt. Der Bauer, seine Frau, die Tochter, die beinah Lehrerin geworden wäre, und der jüngere, taubstumme Sohn. Jenseits des Tales, auf Sichtweite, aber durch die Mühsamkeit des Ab- und Aufstiegs fern wie in einer anderen Welt die Großeltern. Das Leben verläuft nach den Regeln der Natur, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Die Tochter hätte sich fast befreit aus der Unentrinnbarkeit; geblieben sind ihr nur die Bücher. Aber auch sie lehnt sich nicht gegen das Schicksal auf, wie keiner der anderen. Sie sind hier geboren und gehören seit Generationen auf den kleinen Hof. Erst an der Figur des taubstummen Bubs zeigt sich die Extremheit der Situation. Er ist ein Exempel für die Hermetik dieses Daseins und gleichzeitig Katalysator für ihre Bewußtmachung. Er, der nicht sprechen kann, handelt am meisten; die anderen sprechen, sind aber dennoch sprachlos. Der Bub nimmt alles bewußter wahr, wie mit dem siebten Sinn, und die Kamera folgt seiner Neugier. Die eherne Landschaft beginnt in seinem Spiegel zu wanken, die selbstverständlichen Verrichtungen nehmen in seinen Spielen überraschend neue Wendungen, unter seiner Lupe verzerrt sich das Normale ins Monströse. Das Bäumchen, das der Bub sich vors Fenster pflanzt, muß die Launen der Natur überstehen wie die Menschen ihr vom Ablauf der Jahreszeiten diktiertes Schicksal. Der Film durchmißt ein Kalenderjahr, vom Frühling bis zum Winter, und er durchmißt gleichzeitig ein ganzes Leben, das an den wenigen Personen offenbar wird.
Nun gibt es viele verschiedene Wege, ein solches Leben darzustellen, selbst wenn man die unangemessene Verniedlichung des Heimatfilms beiseite läßt. Man könnte in diesen Menschen dumpfe, ihr Schicksal ertragende Geschöpfe sehen; man könnte ihr Hadern mit der geringen Lebensfreude und Weltabgeschiedenheit zeigen; man könnte sie auch als Opfer eines mythischen Erbes und religiöser Zwänge darstellen. Von all dem finden sich Partikel in Murers Film, aber sie stellen nicht das Wesentliche dar, das den Gesamteindruck prägt. Entscheidend für die Art, wie Murer sich seinen Personen nähert, wie er das eine, entscheidende Jahr ihres Lebens beschreibt, sind die in jeder Szene, in jedem Bild spürbare Liebe und Zärtlichkeit für diese Menschen. Je weiter man als Zuschauer dem Film folgt, je mehr man mit den Menschen vertraut wird, um so deutlicher empfindet man sich deshalb nicht als Betrachter einer Geschichte, sondern als Beteiligter, als einer, der an diesem Leben zumindest für ein paar Stunden teilnimmt.
Dadurch wird es so irritierend, daß man ein ganz anderes Verhältnis zu den Dingen bekommt, die den Menschen und die mit den Menschen passieren in diesem Film. Daß Bruder und Schwester sich wie geheime Komplicen auf einer von vornherein aussichtslosen Flucht zusammenfinden zum Inzest (wie falsch klingt hier allein schon das Wort), ist der einzige Augenblick hell aufflackernden Lebens. Das Höhenfeuer steht in Flammen, und moralische Kategorien sind dieser zarten und anrührenden Szene so unangemessen, wie es der Zorn Gottes angesichts des ebenso gewalttätigen wie rituellen Schlusses wäre. Dies festzustellen, diese Irritation, daß man mit dem Wissen und den Weisheiten eines selbstsicheren Lebens diesem Dasein zwischen den hermetischen Bergen nicht gerecht werden kann, macht die erstaunliche Dimension des Films aus. Wer sich wirklich auf ihn einläßt, wird Anlaß genug haben, über die Relativität des Menschlichen und des Menschseins nachzudenken. Es läßt sich verstehen, daß Murer mit der Begründung nicht einverstanden sein konnte, mit der die Ökumenische Jury 1985 dem Film in Locarno ihren Preis verlieh. In der Tat heißt es, den Film vom falschen Ende her angehen, wenn man ihn auf Spuren von Hoffnung abklopft und seine Menschen als Randgruppe qualifiziert, was sie der Miterlebbarkeit förmlich entrückt. Preiswürdig – auch im Sinne einer Ökumenischen Jury – allerdings ist "Höhenfeuer" allemal, denn kaum eine Haltung gegenüber den Menschen könnte "christlicher" sein als die Murers gegenüber seinen Personen.