Es herrscht Ruhe im Land
Gemeint ist Chile
Wolf Donner, Die Zeit, 16.01.1976
Ein Film wie ein Dokument der Solidarität und des Protestes gegen den Faschismus in Chile: koproduziert vom ZDF und dem Österreichischen Rundfunk, 1975 in Portugal mit großzügiger Unterstützung der Armee gedreht. Die Darsteller sind Chilenen, Brasilianer und Argentinier im portugiesischen Exil, der Autor ist der chilenische Schriftsteller Antonio Skarmeta, der schon das Drehbuch zu Lilienthals Film "La Victoria" schrieb und seit April letzten Jahres als Stipendiat in der Bundesrepublik lebt.
Eine Stadt irgendwo in Lateinamerika. Kleinbürger, Passanten, Miliz, eine kleine Pension, in der ein Gast ankommt: Alltag, von Lilienthal unnachahmlich verdichtet zu Augenblicken von flüchtiger Präzision, zu Sequenzen, die ganz authentisch wirken, dokumentierte Sachlichkeit, und die zugleich eine seltsame, beunruhigende Intensität haben. Nicht die konkret erzählte Geschichte des Films "Es herrscht Ruhe im Lande" und nicht seine "Botschaft", sondern dieses Klima von vager Angst, lauernder Gefahr, Misstrauen und äußerster Vorsicht macht ihn zu einer fesselnden politischen Studie.
Die Geschichte: Eine Gruppe politischer Gefangener wird ins Stadtgefängnis eingeliefert, und ein Bürgerkomitee versucht, ihnen zu helfen und ihre Haftbedingungen zu erleichtern. Einigen gelingt die Flucht, die übrigen werden in einem bestialischen Massaker ermordet. Ihre Beerdigung eskaliert zu einer Protestdemonstration, es gibt Straßenkämpfe und Massenverhaftungen. Am Ende ist die Stadt leer, ist die Bevölkerung im Gefängnis und in einem Stadion zusammengetrieben; äußerlich herrscht Ruhe im Lande, aber der politische Untergrund arbeitet weiter.
Die "Botschaft": Eine Stadt hat Angst und findet aus scheuer Ignoranz und liberaler Passivität zu einem ersten gemeinsamen Protest, zur Reaktion, zur Solidarität. Es gibt keinen individuellen Helden, nur Repräsentanten der Bevölkerung. Es wird nicht, wie in "La Victoria", die Bewusstseins-Emanzipation eines einzelnen gezeigt, sondern die aufkeimende Bereitschaft eines Kollektivs, seine trügerische Haltung argloser Unbeteiligtheit aufzugeben und sich gegen die Militärdiktatur zu wehren.
Peter Lilienthal kennt sich aus in Südamerika. Er emigrierte als Kind 1939 nach Uruguay und arbeitet erst seit 1956 wieder in der Bundesrepublik, zunächst fürs Fernsehen, seit 1964 als freier Regisseur. Er hat in seinen Filmen, zuletzt in "La Victoria" und "Hauptlehrer Hofer", einen konsequent anti-dramatischen Stil entwickelt, der nicht auf Höhepunkte zuläuft und sozusagen mit Ausrufezeichen operiert, sondern der nur eine Atmosphäre entwirft, der die entscheidenden Vorgänge ins Nebenbei ganz natürlicher, belangloser Bilder verweist und dabei doch Argument, Analyse und emotionalen Appell nicht ausspart.
Die Familie des alten Pensionsinhabers (Charles Vanel) redet mit ihrem Gast, sein Enkel sammelt bei Freunden und Bürgern für die Gefangenen: Man spricht, gibt sich harmlos und ist doch ängstlich angespannt und auf der Hut. Jede Mitteilung ist eine neue Tarnung, scheue Gesten und verstohlene Blicke, man tastet sich ab, riskiert nichts, legt sich nicht fest – so reden Leute unter der Fuchtel des Faschismus, und so, in spröder Beiläufigkeit, kann politisches Kino funktionieren.
Nicht alles ist gelungen in dem Film. Die Synchronisation ist schlampig, Vanel zum Beispiel, ein zarter Greis, hat das Organ eines bärenstarken Athleten; einige Szenen wirken so beliebig, daß sie überflüssig erscheinen, und auf die vage Revolutionsrhetorik einiger Passagen (und ebenso des Programmhefts) hätte man verzichten können. Andererseits: Szenen, Situationen, Episoden, die nicht, wie üblich in politischen Filmen, plakativ und unausweichlich für oder gegen Personen Stellung nehmen, sondern die nahezu lapidar einen Vorgang oder einen Mechanismus nachvollziehen, eine Stimmung als eine Stimmung registrieren, mit den Assoziationen und Empfindungen des Zuschauers argumentieren.
Ein Polizeiauto fährt durch die Stadt, die Kamera sieht durch das kleine Fenster auf die Straße hinaus, auf Bäume, einen Park, Menschen, die dort auf den Bänken in der Sonne sitzen: Abschied vom Licht, der Freiheit, dem Leben da draußen. Ein Händler lehnt furchtsam die Beteiligung am Komitee ab, spendet aber heimlich für die Gefangenen. Dann, im Verhör, eine kleine Unachtsamkeit, ein kurzes Aufbegehren: "Da waren Schreie von Frauen und Kindern. Ich höre sie noch. Da muß was getan werden." Für sein weiteres Geschick genügen drei kurze Schnitte: wie man ihn in einen Jeep zerrt, wie er nachts, nach der Folter, einen Gang entlanggetrieben wird, wie man ihn irgendwo auf die Straße hinausschubst, ein Wrack, grauenhaft zugerichtet, und er sich so beklommen verdrückt, wie ihn ein par Passanten zu übersehen versuchen.
Oder: ein Mann besucht seine Tochter im Gefängnis. Kein Wort über die Verhaftung und deren Anlaß, sie plaudern fast, wie über einen Krankenhaus-Aufenthalt, alles ist gesagt, ihre politische Tätigkeit und seine besorgten Einwände sind oft genug diskutiert worden, das ist jetzt irrelevant; der alte Mann lächelt tapfer und das Mädchen auch, ihre Blicke sagen Danke und Hab bitte Verständnis und Sei vorsichtig und Ich mag dich sehr.
Ähnlich behutsam, ermutigend, beinahe humorvoll ist der Schluß. Der alte Vanel, bisher skeptisch und muffelig gegenüber dem politischen Widerstand, ist allein übriggeblieben. Er holt Eier aus dem Stall, kocht sie, legt sie in Scheiben auf Brötchen, packt alles ein. Auf der Straße lässt er seine Hühner laufen, geht zu einem Taxi, ein Junge fährt ihn zum Gefängnis. Deinem Vater werde ich auch ein Brötchen geben, verspricht er. Dann ruft er laut: "Faschisten! Verbrecher!", hebt auch gleich die Arme und lässt sich ins Gefängnis abführen. Dort wird er wieder bei seiner Familie sein. Kann man sanfter und liebenswürdiger den ersten Schritt zur politischen Solidarität zeigen?
© Wolf Donner