Deutschland bleiche Mutter

BR Deutschland 1979/1980 Spielfilm

Ein Brief an Lene



Hans C. Blumenberg, Die Zeit, 10.10.1980

Das erste Bild ist undeutlich, aber nur einen Augenblick lang. In einem leicht bewegten Wasser spiegeln sich Farbflecken, rot und weiß und schwarz. Mit einer sanften Bewegung enthüllt die Kamera eine Fahne mit einem Hakenkreuz darauf. Es ist Sommer in Deutschland, der Sommer des Jahres 1939. Zwei junge Männer unternehmen eine Kahnpartie, am Ufer wandelt ein dunkelhaariges Mädchen in Weiß. Vier Braununiformierte kommen ins Bild, mit einem Schäferhund, der nach dem Mädchen schnappt. "Sie hat nicht geschrien", sagt Hans, der eine im Boot. So beginnt eine Liebesgeschichte.

Es gibt keinen einzigen Schnitt in dieser ersten Sequenz des Films "Deutschland, bleiche Mutter". Vom Boot aus folgt die Kamera dem Geschehen, langsam und gleitend, in einer fließenden, harmonischen Bewegung. Es ist ein schöner Tag in einem schönen Land, in dem Hakenkreuzfahnen und Uniformen zum Alltag gehören. Terror kömmt erst später vor, aber man ahnt ihn schon im Idyll.

Es geht weiter, wie solche Geschichten eben weitergehen. Der Hans und die Lene bekommen sich, nur kurz, denn ein Krieg fängt an. Später, in einer Bombennacht, kommt Anna zur Welt, das Kind von Lene und Hans. Da ist das Land nicht mehr schön. Lene und Anna wandern durch Trümmerfelder. In der Zerstörung finden sie, Hexen gleich, einen Moment der Freiheit. Lene trägt Anna durch den Schnee. Eine große Zartheit ist in diesen Bildern des Vagabundierens. Einmal entwindet Lene einem erfrorenen Soldaten den Schal. Es geht weiter. Begleitet wird diese Passage von dem Grimmschen Märchen vom "Räuberbräutigam": ein grausames Märchen, ein Männermärchen.

Der Frieden wird fürchterlich. Mit den Trümmern verschwindet der Geist der Auflehnung. Hexen verwandeln sich wieder in Hausfrauen, die Männer kommen zurück. Was anders hätte werden können, wird wieder, wie es immer war. Der Katastrophe folgt die Versteinerung. Dem verordneten Familienleben mit dem fremden, fremd gewordenen Mann ist Lene nicht gewachsen. So versteinern sich sogar ihre Züge. Eine Gesichtslähmung stellt der Arzt fest und zieht ihr alle Zähne. Lene will nicht mehr Leben. Sie dreht den Gashahn auf. Vor der Badezimmertür sitzt Anna, das Kind, und weint: "Komm raus. Bitte, komm doch raus. Ich bin so allein." Eine Stimme sagt: "Es dauert sehr lange, bis Lene die Tür aufmachte, und manchmal denke ich, sie ist immer noch dahinter, und ich bin immer noch davor, und sie kommt nie mehr heraus zu mir, und ich muß erwachsen sein und allein. Aber sie ist immer noch da. Lene ist immer noch da."


Die Stimme gehört der Regisseurin, Helma Sanders-Brahms. Sie ist Anna, sie erzählt die Geschichte ihrer Mutter. Die Stimme begleitet den Film von Anfang an, doch sie ist nicht die erste, die man hört. Aus dem Off liest Hanne Hiob das Gedicht "Deutschland, bleiche Mutter", das Bertolt Brecht, ihr Vater, 1932 geschrieben hat. Es beginnt mit den Zeilen: "Mögen andere von ihrer Schande sprechen, / ich spreche von der meinen." Kurz darauf die Stimme der Filmemacherin: "Ich kann mich an nichts mehr erinnern in der Zeit vor meinem Leben. An dem, was geschah, bevor ich geboren war, trifft mich keine Schuld. Da gab es mich nicht. Ich fing an, als mein Vater meine Mutter zum erstenmal sah."

"Deutschland, bleiche Mutter" ist kein Film der historischen Erinnerung, keine Rekonstruktion wie "Stunde Null" von Edgar Reitz, auch keine Mythencollage wie Syberbergs "Hitler – Ein Film aus Deutschland", auch kein Restaurations-Melodram wie Fassbinders "Die Ehe der Maria Braun". Helma Sanders-Brahms (den Doppelnamen hat sie sich zugelegt, damit die ewigen Verwechslungen mit der geschätzten Heike Sander aufhören) schreibt einen Brief an ihre Mutter. Solche Korrespondenzen sind nicht immer frei von Sentimentalitäten, auch von Peinlichkeiten. Das kommt daher, daß die Regisseurin ihre alten Verletzungen nicht verheimlicht, sondern zur Schau stellt.

Helma Sanders hat schon immer ein Kino der Gefühle gewollt, ein Kino, in dem private Leidensgeschichten aufgehen sollten in allgemeine Bedeutungen ("Unter dem Pflaster ist der Strand", "Shirins Hochzeit", "Heinrich"). Manchmal war das schwer auszuhalten, wurde der Hunger der Regisseurin nach Verbindlichkeit im individuellen Schicksal zum Ballast für ihre Filme. Die hießen "Die Maschine" oder "Der Angestellte", wo es "Eine Maschine" oder "Ein Angestellter" wohl auch getan hätten. Auch "Deutschland, bleiche Mutter" ist nicht frei von diesem Anspruch. Schon der Titel läßt erkennen, daß eben doch nicht nur Lene gemeint ist, sondern deutsche Mütter überhaupt. Symbolismen verdeutlichen dem Zuschauer allzu plump, was es ohnehin erfährt. Zweimal führt Hans, in Polen und in Frankreich, eine Partisanin zur Exekution, die seiner Lene zum Verwechseln gleicht (und ebenfalls von Eva Mattes dargestellt wird). Der Krieg kommt über alle Frauen, und in den fremden tötet er auch seine eigene.


Das sieht man später genauer: wenn Hans (Ernst Jacobi, der kleinbürgerlich Zwanghaftigkeit gern verkörpert) den Krieg ins Wohnzimmer trägt, wenn der schüchterne blonde Jüngling, der von Politik nichts wissen will, sich in einer kaputten Untertan verwandelt hat.

Als "Deutschland, bleiche Mutter" in Februar bei der Berlinale uraufgeführt wurde, reagierten die deutschen Kritiker fast ausnahmslos sehr aggressiv auf die offensichtlichen Schwächen des Films. Und übersahen seine ungewöhnlichen Schönheiten. Vom ersten Bild an bevorzugt Helma Sanders die Plansequenz die Darstellung eines Geschehens ohne Schnitt, mit langen, oft kompliziertet Einstellungen, die Schauplätze erforschen, Beziehungen zwischen den Figuren herstellen. Weiche, organische Bewegungen bestimmen den ersten Teil des Films (die Geschichte der Begegnung, der kurzen Nähe). Verhärtung setzt ein, als Hans zum erstenmal von einem Fronturlaub zurückkehrt, nicht verstehen kann, daß Lene sich ihm entzieht. Da trennt Helma Sanders die Figuren voneinander im konventionellen Schuß-Gegenschuß-Verfahren, da deckt die Montage den Bruch in der Beziehung des Paares schärfer auf als der Dialog.

Die weiblichen, fließenden Formen lösen sich auf. Und kehren wieder, wenn Lene und Anna unterwegs sind, wenn eine anarchische Fröhlichkeit die Frauen erfaßt, die nichts mehr zu verlieren haben. Plötzlich sieht man Frechheiten, Waghalsigkeiten. Da spielt Helma Sanders mit ihrem Material, konfrontiert ein Trümmerkind aus einem uralten verblichenen Farbdokument mit ihren eigenen Figuren, inszeniert ein abenteuerliches Zwiegespräch zwischen dem Jungen von 1945 und den Schauspielern von 1979.

Wenn Helma Sanders von ihren Gefühlen redet, mag ich nicht immer zuhören, aber wenn sie Emotionen in Bilder übersetzt, dann kann ich noch lange zuschauen. Ich sehe Eva Mattes als Lene: den Backfisch und die Hexe, Kaffeekränzchen-Lene und Landstreicher-Lene, die keusche Braut und die alte Frau mit dem entstellten Gesicht. In keinem anderen Film, nicht einmal bei Fassbinder in "Wildwechsel" und bei Herzog in "Stroszek", hat diese phantastische Schauspielerin so viel von sich sehen lassen.

"Deutschland, bleiche Mutter": Bilder aus einem Poesiealbum, zerstörte Innerlichkeit, Szenen aus der längst nicht vergangenen Kleinbürgerwelt. "Ich lebe", schreibt Helma Sanders-Brahms im Buch zum Film (rororo- Neue Frau, Nr. 4453), "nicht anders als meine Eltern, nur in andern Zeiten".

© Hans-Christoph Blumenberg

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