Abwege

Deutschland 1928 Spielfilm

Abwege


R. K., Lichtbild-Bühne, Nr. 215, 6.9.1928


Einer der ernstesten, der regietechnisch vollendetsten Filme, die diese Saison gebracht hat. Ein ungemein deutscher Film: unter Verzicht auf alle äußeren sensationellen Ereignisse inszeniert, nur bemüht, die Irrwege der Seele ins Bild zu bringen. Mit einer leisen, behutsamen Delikatesse gemacht, die jeden Kenner erfreuen wird.

Ein ausgesprochen psychologischer Film, der den Schauplatz der Handlung in der menschlichen Seele sucht und dem die äußeren Vorgänge nur interessant sind, insofern sie bedeutsam für gefühlsmäßige Veränderungen sind. Millimeter für Millimeter wird die Wandlung der Seele bloßgelegt, es ist ins Bild gebrachte Analyse, ein Herumoperieren mit filmischen Mitteln. Und alles wird mit sauberster Technik gemacht, eine Szene quillt zwangsläufig aus der andern, es gibt nichts Abgerissenes, alles fließt in erwogener Harmonie dahin.

Die Handlung ist nicht umfangreich, die Form, in der sie sich darstellt ist alles. Daß ein Mann für seine Frau keine Zeit hat, ist weder neu noch künstlerisch sensationell. Daß die Frau auf Abwege gehen will, überrascht auch nicht. Aber aus diesem wenig aufregenden Thema haben die Autoren Adolf Lantz und L. Vajda (nach einer Idee von Franz Schulz) eine Fülle interessanter Situationen herausgeholt. Charakteristisch für die geistige Einstellung des ganzen Films ist es, daß der sensationelle Höhepunkt der Handlung in einer Situation liegt, die in einem geräuschvolleren Film kaum auffallen würde.

Die Frau ist bei einem Maler, von dem sie nicht weiß, ob sie ihn liebt oder nicht. Es klopft: ihr Mann, den sie zu hassen meint, da er seine Akten für wichtiger hält. Der Maler will nicht öffnen, sie befiehlt: öffnen. Und mit einem Ruck streift sie ihr Kleid ab und steht halb entblößt vor dem entsetzten Gatten. So will sie ihn strafen. Und es ist bezeichnend für die feinsinnige, stilvolle Führung dieses Films, daß diese Situation wie etwas ungemein Sensationelles, Aufregendes wirkte.

Das ist zunächst das Verdienst des Regisseurs G. W. Pabst. Ein ungemein begabter Mann, ein starkes filmisches Talent. Ein Künstler, der ein unbeirrbares Gefühl dafür hat, Geistiges bildlich zu verwirklichen. Er gebraucht ungern Titel, da er alle Gedanken, alle Gefühle anschaulich wirksam auf die Leinwand bringen will. Damit wird das Tempo natürlich verlangsamt, es gibt eine Fülle von Details, die sich überlasten, es gibt ein Exzellieren in Einzelheiten, das die große Linie der Führung verwirrt.

Aber wie sind diese Einzelheiten gemacht! Jede Einstellung ist persönlich erfühlt, jede Bewegung ist von Ausdruck erfüllt, jede Miene sitzt an der richtigen Stelle. Es ist, als ob jedes Detail mit gradezu zärtlicher Liebe ausgestaltet ist. Was Pabst zum Filmregisseur großen Formats heut noch fehlt, ist ein entschlossener Verzicht darauf, alles sagen zu wollen. Mehr Gefühl für Handlung und vor allen Dingen mehr Sinn für Humor. (...)

Die tragende Rolle des Films liegt in den Händen von Brigitte Helm. Sie ist heut die paradoxeste Künstlerin, die wir in Film-Deutschland haben. Sie sieht, mit ihrem herben Profil und dem glatt zurückgestrichenen Haar, wie ein sehr ernstes Kind aus, um im nächsten Augenblick alle Künste der Verführung anzukurbeln, ein blonder "vamp" zu werden, wie er im Buch steht. Erstaunlich, wie kühn die Frau auf alle schönen Posen verzichtet, wie sie immer nur Ihr Selbst vor den Apparat stellt, die leidenschaftliche Energie ihres Ausdrucks, die Kunst ihrer bald gehemmten, bald sich leidenschaftlich hingebenden Bewegungen. Aus dieser Künstlerin kann noch alles werden. Sie ist Jungfrau und Hetäre, Wildes und Keusches eint sich in ihr – und sie beherrscht vollendet die filmschauspielerischen Mittel, um das alles zum Ausdruck zu bringen. (...)

Rights statement