Taking Sides - Der Fall Furtwängler
Taking Sides - Der Fall Furtwängler
Jörg Gerle, film-dienst, Nr. 5, 26.02.2002
Berlin in den späten Kriegsjahren. In prunkvollem Ambiente gibt das Philharmonie Orchester Beethovens Fünfte, im Publikum Nazi-Funktionäre, deren Angehörige und Soldaten. Am Pult steht Wilhelm Furtwängler, der unerschütterlich weiter dirigiert, als die Sirenen einen Luftangriff auf die Stadt ankündigen. Erst durch einen Stromausfall ergibt sich der Dirigent den widrigen Umständen. Ein Offizier und Gönner sucht den erschöpften Maestro wenig später auf und mahnt ihn, angesichts der Lage besser Konsequenzen zu ziehen und das Land zu verlassen. Wie kann es möglich sein, dass ein intelligenter Mensch, der weltweit anerkannte Leistungen als Komponist und Dirigent erbringt, in Hitler-Deutschland nicht nur leben, sondern sich sogar weiter entwickeln konnte? Für Major Steve Arnold steht außer Frage, dass ein solcher Mensch, der nicht vor den Nazis weicht, sondern sich arrangiert, vom "Teufel" nicht zu unterscheiden ist. Als er im Herbst 1945 die Untersuchung im Fall Furtwängler übernimmt, ist der Musiker in seinen Augen bereits der Kollaboration überführt. Die Befragung von Kollegen, Bekannten und schließlich des Beschuldigten selbst soll für ihn nichts weiter als die Bestätigung der Aktenlage sein. Hauptberuflich als Versicherungsdetektiv tätig, arbeitet Arnold nach dem bewährten Schema, dass zwischen schuldig und unschuldig keine Grauzone existiert. Er ist auch als Offizier gewohnt, Beschuldigte zu Geständnissen zu nötigen, die seine vorgefasste Meinung bestätigen.
Die Verhöre des Falls Furtwängler bilden das Zentrum von "Taking Sides" und lassen erahnen, mit wem es der Zuschauer zu tun hat. Sie entlarven Arnold als Pedanten und Ignoranten, dessen Weltbild säuberlich in Schwarz und Weiß eingeteilt ist. Sie eröffnen aber auch, wessen Geistes Kind die Kollegen und Freunde sind, die über den Angeklagten aussagen, besser, dem Ankläger nach dem Mund reden. Nur über den Angeklagten selbst, über seine Motivation und seine Geisteshaltung bleibt eigentümlich viel im Schatten. Er sei ein großer Künstler und daher eine Respektsperson, hört man immer wieder von Seiten der Zeugen, besonders vom jungen jüdischen Soldaten Wills und der Tochter eines Hitler-Attentäters. Beide, als Assistenten Arnold zur Seite gestellt, ergreifen als "unbefangene" Musikfreunde Partei für den heftig angefeindeten Furtwängler.
István Szabó, der sich mit "Mephisto" (fd 23 139), "Oberst Redl" (fd 25 047) und "Hanussen" (fd 27 123) als Experte erwiesen hat, wenn es um die Darstellung menschlicher Schicksale in einem menschenfeindlichen Umfeld geht, wirft auch hier einen Blick auf ein zunächst paradoxes Verhaltensmuster – und bleibt dabei erstaunlich oberflächlich. Szabó reduziert das Problem nach der moralischen Verantwortung eines Künstlers in einem totalitären Umfeld, ähnlich wie sein Chefankläger im Film, auf die vereinfachende Frage: Schuldig oder nicht schuldig? Im Verlauf des Films verdichten sich immer mehr die Indizien, dass der Dirigent, obwohl oberflächlich gesehen ein Sympathisant, dem Regime keineswegs wohlgesonnen gewesen ist. Szabó etabliert Furtwängler als zweiten Schindler, der zwar im Regime wirkte, in ihm groß wurde und von ihm partizipierte, dabei aber dessen Gesinnung nicht vollends teilte. Furtwängler sei einzig der Kunst verpflichtet gewesen und half auch von den Nazis Verfolgten aus ausweglosen Situationen. Major Arnold stellt Furtwängler die für ihn alles entscheidende Frage, warum er 1934 das Land nicht verlassen habe, und deutet das Stammeln von der Unmöglichkeit, die Heimat zu verlassen, als Unfähigkeit, eine plausible Antwort zu geben. Er interpretiert die Heimatverbundenheit als geistige Nähe zum Gedankengut der Nazis.
Auch Szabó versucht nicht, der Frage nach den Gründen für das Bleiben auf den Grund zu gehen, sondern verwendet alle suggestiven Energien, den Angeklagten reinzuwaschen. Spätestens am Schluss wird auch dem letzten Zweifler mit einer Original-Filmaufnahme von einem Furtwängler-Konzert signalisiert, dass der Musiker ein zu Unrecht Beschuldigter war und einem überehrgeizigen "Staatsanwalt" zum Opfer gefallen ist. "Taking Sides", der über weite Strecken durchaus überzeugend die Unmöglichkeit, eindeutig Partei zu ergreifen, aufzeigt, stellt sich mit dem "dokumentarischen Schlussbild" eindeutig auf die Seite Furtwänglers. Mit diesem Kniff drückt sich der Film um seine eigentlich spannende Problematik, inwieweit sich Künstler wie Furtwängler (oder auch Leni Riefenstahl) bewusst mit dem politischen Umfeld, in dem sie lebten, intellektuell beschäftigen wollten. Dass vielleicht gerade eine Ignoranz gegenüber politischen Verhältnissen eine der entscheidenden Rahmenbedingungen für großes (künstlerisches) Schaffen sein könnte, damit setzt sich der Film nie auseinander. Szabó postuliert zwar die politische Blindheit Furtwänglers, er hinterfragt sie aber nicht. "Taking Sides" vermeidet es mit der expliziten Entschuldung des Angeklagten, den Zuschauer vor die Wahl zu stellen, ob er für solches Verhalten hat. Von daher wagt sich der Film nur ein Stück in die richtige Richtung vor, um dann aus Angst vor der eigenen Courage zurückzuweichen.