Nichts als die Wahrheit
Nichts als die Wahrheit
Jan Distelmeyer, epd Film, Nr. 10, Oktober 1999
Schon den Titel dominiert sie, und auch während des Films wird sie am häufigsten genannt und am erbittertsten gesucht: die Wahrheit. Ihr Inhalt könnte – gerade angesichts der jüngsten Debatte um die Veröffentlichung der Eichmann-Memoiren – brisanter kaum sein. Denn es geht um Josef Mengeles Wahrheit, um die der "Nachgeborenen" und letztlich um die Wahrheit von und in Auschwitz. Was das Verhältnis zwischen Wahrheit, Film und Titel angeht, so erfuhr Roland Suso Richters "Nichts als die Wahrheit" kürzlich erst eine bemerkenswerte Änderung: Bei dem Schritt vom Arbeitstitel "After the Truth" zum Verleihtitel ist aus dem Zustand "nach der Wahrheit" jetzt radikal sie selbst geworden.
Dieser Wahrheit indes als Kritik-Strategie eine andere, vielleicht "die richtige" gegenüberzustellen, hieße die Problematik des Films zu kopieren. Ein Weg, nicht allein einer eindrucksvollen Behauptung mit einer anderen zu antworten, liegt darin, nach der Funktionsweise eben dieser Titel gebenden Wahrheit in Richters Film zu fragen. Und danach, in welchem Kontext sie entsteht und was sich mit ihr anfangen lässt.
"Nichts als die Wahrheit" erzählt eine spekulative Geschichte. Josef Mengele, "der Todesengel von Auschwitz", ist entgegen offizieller Angaben nicht 1979 in Südamerika ertrunken. Er lebt und sorgt mit Hilfe einflussreicher Neonazis dafür, dass der Anwalt und "einzige deutsche Mengele-Experte" Peter Rohm (Kai Wiesinger) in sein südamerikanisches Exil entführt wird. Als der schockierte Rohm dort das Angebot ablehnt, nun aus erster Hand Informationen über seinen verhassten Forschungsgegenstand zu erhalten, folgt Mengele ihm bei seinem Rückflug nach Deutschland, stellt sich der deutschen Justiz und verkündet noch am Flughafen, dass Rohm seine Verteidigung übernehmen werde. Zum Erstaunen und Schrecken von Rohms Ehefrau, der Journalistin Rebekka (Karoline Eichhorn), willigt Rohm nach langem Zögern schließlich ein.
Dieses Szenario ist der Rahmen, in dem die Fragen nach Wahrheit und Schuld entwickelt und beantwortet werden. Parallel zueinander, halb Thriller, halb courtroom-drama, wird die Schuld Mengeles und die seines Verteidigers verhandelt, die darin zu liegen scheint, "einen der größten Verbrecher der Menschheitsgeschichte" zu verteidigen. Die sich darin manifestierende Orientierung am Überverbrecher wird zum dramaturgischen Kern von "Nichts als die Wahrheit – es könnte auch kaum anders sein, denn Josef Mengele wird von Götz George verkörpert.
Vom ersten Auftritt an zeigt George, in welche Kino-Kategorie er seine Figur führen wird: das Monströse mitsamt der von ihr ausgehenden Faszination. Zwei Farben hat Josef Mengele, braun und schwarz. Die erste gibt ihm im Bademantel, Anzug oder Trenchcoat etwas von einem Mönch, seine vom Alter leicht gebückte Haltung lässt ihn ständig sinnierend erscheinen. Und tatsächlich philosophiert er über sich und kommt zu dem Schluss, mit einem Akt der Menschlichkeit seine Opfer in Auschwitz von den Leiden im KZ erlöst zu haben. Sein erster Auftritt im Gerichtssaal zeigt ihn ganz in schwarz, hinter Panzerglas als Bühne und als Schutz vor Attentätern. Sein bleicher, kahler Schädel mit den blutleeren Lippen, gegen die er matt und regelmäßig ein Taschentuch drückt, hebt sich deutlich von allem anderen im Saal ab. So sieht es aus: Mephisto steht hier vor Gericht, das Böse schlechthin, das wie immer mit seiner radikalen Offenheit beeindruckt und damit sogar seine Nazi-Freunde gegen sich aufbringt. Deren Lüge von der "Auschwitz-Lüge" entzieht er den Boden: "Auschwitz war ein Vernichtungslager, das wissen sie doch, Herr Staatsanwalt." Sich selbst präsentiert er als forschender Mediziner in schlimmen Zeiten: "Ich war nie Nazi, ich habe mich mit dem System arrangiert wie unzählige andere auch."
Genau hier kommt es zum zentralen Bruch in "Nichts als die Wahrheit". Auf der einen Seite steht die Strategie der Verteidigung, die der Ausnahmestellung Mengeles als Schlächter von Auschwitz widerspricht. Rohm versteht sein Mandat weniger als Auftrag zur Entlastung Mengeles als vielmehr zur Belastung des Kontexts. Über dem "Es waren die Umstände" aber schwebt die Inszenierung der mythischen Figur Mengele, das Spiel Götz Georges, das gepaart mit Maske und Licht Mengele genau zu jenem transzendentalen Wesen macht, gegen das er selbst und seine Verteidigung anargumentieren. Georges Fingernägel, etwas länger als üblich und sogar spitz zulaufend, sind die Insignien eines Untoten der deutschen Geschichte, der Nosferatu näher steht als der Banalität des Bösen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sein Anwalt sich wie Draculas Renfield unter dem Bannstrahl seines überlebensgroßen Mandanten zu verändern droht.
Abstrahiert man jedoch soweit es geht von der Präsenz des Bösen, was sagt dann Nichts als die Wahrheit über jenen Kontext der Verbrechen? Thema ist hier fast ausschließlich die medizinische Ethik, in deren Logik die "Vernichtung unwerten Lebens" zum Prinzip werden konnte. Diese verknüpft Rohm vor allem mit bereits vor 1933 angestellten Überlegungen zur Euthanasie und zeigt Parallelen auf, die bis zur aktuellen medizinischen Praxis führen. Ansonsten ist "die Zeit" der Kontext, wobei damit im günstigsten Fall auf das Wissen des Publikums um die NS-ldeologie spekuliert wird. Wer davon wenig weiß oder wissen will, für den oder die wird "die Zeit" hier zu einer ähnlich mystischen Größe wie die Leinwandfigur Mengele. Ideologie an sich muss hier eine diffuse Bedrohung bleiben, mit der eigentlich niemand, auch Mengele nicht, etwas zu tun haben will.
Zum guten Schluss findet die Erforschung des Bösen ihr klares Ende, ein Urteil wird gefällt, und noch der Abspann gehört ganz und gar dem monströsen Kinohelden Mengele /George. Ganz so, als wolle "Nichts als die Wahrheit" nun endgültig jene Funktion für seine historische Figur übernehmen, die kurz zuvor der Staatsanwalt (Peter Roggisch) mahnend dem ganzen Prozess zugeschrieben hatte: "Josef Mengele ist befriedigt. Er hat es geschafft, seinen Mythos mit einem Menschen aus Fleisch und Blut Konturen zu geben. Dieser Mensch hat längst über uns alle gesiegt." Wenn dem so ist, so müsste schließlich diskutiert werden, ob mit dieser Inthronisation des Mengele-Mephisto eine andere Form der Auseinandersetzung mit dem Holocaust im hiesigen Kino begonnen hat. Rezeptionsstudien werden sich damit beschäftigen müssen, ob für die apolitisch-moralische Entnazifizierung von "Nichts als die Wahrheit" der gleiche Satz gilt, den Mengele in diesem Film auf die Frage antwortet, warum er jetzt zu einem Prozess in Deutschland bereit ist: "Die Zeit ist reif."