Solino

Deutschland 2001/2002 Spielfilm

Der Italiener an der Ecke

Dietrich Brüggemann, Schnitt – Das Filmmagazin, Nr. 28, Herbst 2002

Wirft man einen Blick auf das deutsche Filmschaffen, so kann man den Eindruck gewinnen, es gäbe hierzulande eigentlich nur wenige erzählenswerte Themen, die daher immer wiederholt werden müssten: lustige Beziehungen, traurige Psychosen, Nazis und Widerständler, junge Leute in Berlin und neuerdings die RAF. Dabei liegen direkt vor unserer Nase Stoffe herum, die noch kein Filmemacher angefaßt hat.

Zum Beispiel die Geschichte der ersten Einwanderer, die in den 6oer Jahren als "Gastarbeiter" ins Land kamen. "Solino" erzählt die Geschichte einer Familie mit zwei großen Zeitsprüngen von 1964, als Vater und Mutter mit zwei kleinen Söhnen ins finstere Ruhrgebiet kommen, bis ins Jahr 1984. Das Besondere an dieser Familie ist eigentlich nur, daß die Mutter irgendwann auf die Idee kommt, in der leerstehenden Eisdiele gegenüber eine Pizzeria aufzumachen – die erste im Ruhrgebiet.

Fatih Akin erweist sich als der ideale Mann für diese Geschichte. Er ist selbst als Einwandererkind in Deutschland aufgewachsen, und er hat sich mit seinen ersten zwei Filmen als eine der sympathischsten Figuren im deutschen Kinobetrieb herausgestellt. Was "Kurz und schmerzlos", der erste, versprochen hatte, hielt "Im Juli": phantasievolles und zugleich im besten Sinne bodenständiges Erzählkino. Endlich war da jemand, der weder dem sensationsgeilen Fernsehbetrieb entsprungen noch durch die pseudointellektuelle Diskursmühle der Filmhochschulen gedreht worden war.

Fatih Akin macht stattdessen schnörkellos gute Filme, und das zeigt sich wieder bei "Solino". Gegen die zwei obengenannten Krankheiten des deutschen Films ist er offenbar sowieso immun, und die dritte, nämlich die Aufgeblasenheit auf Möchtegern-Weltniveau, vermeidet er souverän. Aufs Angenehmste hebt "Solino" sich ab von den großspurigen Hollywood-Imitationen, mit denen zu viele deutsche Filmfirmen in den letzten Jahren ihr Börsengeld zum Fenster hinauswarfen. Nie erhebt er sich über seine Figuren, stets ist er auf ihrer und damit auf unserer Seite, charmant und dennoch mit Tiefgang und Liebe erzählt er seine kurvenreiche Geschichte. Die Beklemmung, die uns entgegenschlägt, als die Familie im fremden, kalten, grauen Duisburg ankommt, als der Vater zum ersten Mal in die Kohlengrube fährt, das Verhältnis der ungleichen Brüder, das sich zwischen Eifersucht und Bruderschaft über zehn Jahre entwickelt, das Schicksal der Mutter, die nie richtig deutsch lernt und sich in ihrer Küche im Keller halb tot arbeitet, all das wirkt in seiner Aufrichtigkeit wie eine Befreiung. "Solino" harmonisiert nicht und problematisiert auch nicht, er greift ins Leben, findet eine Geschichte und erzählt sie in aller Trauer und aller Schönheit.

Wenn der Film ein Problem hat, dann liegt es zum einen in der uninspiriert vor sich hindudelnden Musik und zum anderen in der Geschichte des Jungen aus dem italienischen Dorf, der gerne Filmemacher werden will. In einem Film wie diesem, der aus seiner Unmittelbarkeit lebt, so deutlich auf einen anderen zu verweisen, tut der Sache nicht gut, kostet ein Stück Frische und Glaubhaftigkeit. Davon abgesehen ist auch hier das Alterungsproblem mal wieder nicht gelöst – die Eltern sehen am Ende aus wie am Anfang.

Doch all das ist zweitrangig, denn "Solino" ist einer jener seltenen Filme, bei denen man gar keine Lust mehr hat, kritisch zu sein und Einzelheiten zu bemäkeln. Und schließlich hat er den schönsten Zeitsprung zu bieten, an den ich mich im Kino überhaupt erinnern kann: Jemand rennt voller Übermut die Treppe hoch und kommt – zehn Jahre älter aber genauso ausgelassen – oben an.

Gäbe es ein schöneres und optimistischeres Bild für das Leben an sich?

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