Devot
Devot
Marc Hairapetian, film-dienst, Nr. 23, 11.11.2004
Sie könnten kaum unterschiedlicher sein, doch das Schicksal führt sie in einem Verwirrspiel der unheimlicheren Art zusammen: Anja, ein grellblond gefärbtes, kurzgeschorenes Technopunk- Girl mit Platzwunde am Mund, bei der das Attribut "durchgeknallt" nach Understatement klingt, hat offensichtlich ein Problem – sie steigt auf eine Brücke, bereit zum Absprung. Henry stoppt zwar seinen Wagen, hat aber keineswegs Mitleid. Im Gegenteil, er hält sie für eine Prostituierte und fragt nach dem Preis. Sie geht darauf ein und nennt tarifsicher 120 Euro. Henry fährt sie in seinem protzigen Wagen zu einer Fabriketagen-Wohnung. Er wirkt sadistisch, nicht so sehr körperlich wie seelisch. Vielleicht will er auch nur ihr Innenleben kennen lernen, ihr insgeheim sogar helfen, aber das lässt er sich nicht anmerken. Anja drängt auf Sex, wahrscheinlich, weil sie an seinem Geld interessiert ist. Sie klaut schließlich sein Portemonnaie, will ausreißen; doch Henry hält sie fest, fesselt sie, füllt ihre Handtasche mit Drogen und ruft die Polizei an (jedenfalls scheint es so). Er schlägt ihr einen Deal vor: Sie soll ihm eine Geschichte erzählen, dann würde er die Polizei zurückrufen und sie gehen lassen. Es entwickelt sich nicht nur ein verbales, sondern auch ein körperliches Duell. Die beiden fühlen sich voneinander angezogen und zugleich abgestoßen. Anjas Erzählung deutet auf eine vergangene Vergewaltigung hin. Lilly heißt das Opfer. Ob das stimmt, bleibt wie der Rest der Ereignisse unklar. Henry will Anja hinauswerfen, worauf sie einen Selbstmordversuch in seiner Badewanne unternimmt. Er will ihre Leiche vergraben. Doch Anja ist nicht tot – ist sie eine lebende Tote, wie sie behauptet? Sie droht der Polizei zu sagen, er habe sie ermorden wollen. Der Machtkampf geht weiter.
Gleich in den ersten Minuten gibt es Missverständnisse, aber auch bewusste Lügen. Henry sollte wissen, dass sich Prostituierte nicht auf Brückengeländer stellen, und Anja hat es bestimmt nicht auf einen Kunden abgesehen. "Unnormales" Verhalten dominiert auf beiden Seiten. Igor Zaritzky ist ein Psychothriller gelungen, dessen Spannung auf dem aufbaut, was sich in den Köpfen der beiden Protagonisten abspielt, und der von seiner unwirklichen Stimmung lebt. Auch die Schauplätze wirken fremd: Die Städte Halle und Leipzig sind bislang selten von Filmteams besucht worden. Seelische Abgründe tun sich schon durch die Auswahl der sterilen Sets auf. Henrys dunkle Fabriketage ist weiträumig und beengt zugleich; seine Wohnung mit Videoüberwachung und Skulpturen aus Stahl sieht aus wie das Labor aus einem Horrorfilm der Cyber-Generation. Zaritzky gibt sich ganz der Lust an der Form hin, wobei sein vorrangiges Interesse Licht, Kamera und Architektur gilt. Die Fabriketage enthält verschiedene Ebenen und Treppen; durch die in der Postproduktion hinzugefügten schrägen Töne wird ein audiovisuelles Kabinett des Wahnsinns heraufbeschworen. Auf Außenaufnahmen verzichtet der Filmemacher fast ganz. Obwohl ein sehr junges Team vor und hinter der Leinwand agiert, ist "Devot" ein reife Leistung. Zuletzt gab es bei dem Thriller "Tattoo" (fd 35 342) ähnlich exzellente Atmosphären, allerdings auch ähnliche inhaltliche Ungereimtheiten.
Anja und Henry belügen sich von Anfang an und genießen es. Suspense entsteht durch die Hoffnung, dass aus ihnen ein Paar wird, aber sie schaffen es nicht, weil sie sich zu kapriziös geben. "Devot" ist eine Herausforderung für die Darsteller. Annett Rennebergs klassische Schönheit wirkt eher androgyn; als suggeriert wird, Anja sei ein Zombie, glaubt man das auf Anhieb. Zunächst hat sie in Simon Bör einen ebenbürtigen Partner, eine markante Erscheinung, ein kultivierter Rohling; selbst wenn er Anja schlägt, wirkt er präzise und kontrolliert. Je mehr Henry die Kontrolle verliert, umso schwächer wird Bör. Er bleibt angespannt. Unfreiwillige Komik entsteht, wenn er Anjas "Leiche" vergräbt und sich dazu das T-Shirt auszieht. Bör wirkt übertrieben eitel und vertraut nichts desto trotz zu wenig seiner Ausstrahlung. Gegen Rennebergs lockeren Körpereinsatz fällt er gehörig ab. Dennoch ist "Devot" eine risikofreudige Außenseiterproduktion mit einer gewagten Botschaft: Lügen kann erotisch sein, permanentes Misstrauen macht Menschen interessanter. Zaritzky schielt auf keine Zielgruppe; für reine Exploitation sind die Charaktere zu differenziert, spielt sich zuviel in ihren Köpfen ab, für Liebhaber des Kammerspiels ist der Film wiederum zu "sexy". Man merkt ihm an, dass zuerst die Figuren und dann die Handlungsstränge entwickelt wurden. Die Persönlichkeiten bleiben stärker im Gedächtnis als die Handlung, die eine Wendung zu viel nimmt. Leider sucht Zaritzky am Schluss eine rationale Erklärung für das Geheimnisvolle, zu einem offenen Ende konnte er sich nicht entschließen. Was ein endloser Albtraum hätte werden können, entpuppt sich immerhin als eine überdurchschnittliche Stilübung.