Mein langsames Leben
Mein langsames Leben
Martina Knoben, epd Film, Nr. 03.09.2001
Sie sind Ende 20 bis Anfang 30, studieren oder üben einen interessanten Beruf aus. Sie haben hübsche Wohnungen, sehen gut aus und ziehen sich gut an. Und trotzdem machen alle den Eindruck, dass sie in ihrem Leben nicht recht zu Hause sind, dass das "wahre" Leben vielleicht woanders stattfindet. Vielleicht in Italien, dem deutschen Sehnsuchtsland? Gleich zu Beginn des Films erzählt Sophie (Nina Weniger) Valerie (Ursina Lardi), dass sie für ein halbes Jahr nach Rom geht, um dort zu arbeiten. Was sie erwartet, weiß sie selbst nicht, aber ihre Erwartungen sind hoch. Dann ist Sophie in Rom und taucht erst am Ende des Films wieder auf. Dazwischen liegt ein langer Sommer, in dem Valerie Thomas (Andreas Patton) kennen lernt und die beiden ein Paar werden; Marie (Anne Tismer), bei der Valerie wohnt, noch einmal schwanger wird; Maries Kindermädchen Maria (Sophie Aigner) heiratet und Valeries Vater stirbt. Die Lebenswege der Figuren treffen sich und laufen eine Zeit lang vielleicht parallel. Manche tauchen aber auch nur einmal kurz auf und verschwinden dann wieder aus der Geschichte. Solche Freiheiten des Erzählens nimmt sich Angela Schanelec selbstbewusst heraus.
"Der Film ist der Versuch, das Leben von außen zu betrachten, Distanz zu gewinnen, nicht einzugreifen, sondern zuzusehen", sagt sie. Sie interessiert sich für den Raum, der ihre Figuren umgibt, womit der familiäre und der gesellschaftliche Raum gemeint sind, aber auch die ganz konkrete Umgebung. Deshalb gibt es viele Totalen und Halbtotalen, aber kaum Großaufnahmen in diesem von Reinhold Vorschneider sehr schön fotografierten Film. In den Blick geschobene Fenster und Rahmen schaffen zusätzlich Distanz. Dazu kommt ein langsamer Schnittrhythmus, man hat Zeit, sich in den Bildern umzusehen. So sieht selbst die Großaufnahme von Valeries Gesicht am Anfang so luftig aus, dass sie in gewisser Weise wie eine Totale, eine Landschaft, wirkt.
Da ist eine Weite, die selbst die Begrenzung des Bildausschnittes aufhebt. Wenn Maria zu Schuberts "Erlkönig" tanzt, passiert das im Off und ist nur als Widerspiegelung auf Claras Gesicht zu sehen. Clara ist Maries Tochter, die Maria tagsüber betreut. Und viele wichtige Ereignisse werden quasi ins "Off" der Geschichte, in den Raum zwischen den Schnitten verlegt. Valerie und Thomas sind irgendwann ein Paar, ohne dass man beispielsweise den ersten Kuss gesehen hätte. Valeries Vater ist im Krankenhaus gestorben, etc. Wo die übliche Dramaturgie vermeintliche Höhepunkte aneinanderreiht und so quasi einen "Best of"-Zusammenschnitt des Lebens anstrebt, besteht Angela Schanelec auf dessen Langsamkeit. Schon ihre früheren Filme "Das Glück meiner Schwester" (1995) und "Plätze in Städten" (1997/98) waren nicht leicht zugängliche, aber aufregende Filme. Auch "Mein langsames Leben" ist streng, spröde; die Regisseurin verweigert sich – ebenso sehr der Hollywood-Glätte wie den Dogma-Ausbrüchen. Ihr Film ist dennoch (oder gerade deshalb) einer der faszinierendsten deutschen Filme der jüngsten Zeit.
Es wird viel geredet in "Mein langsames Leben", meist über Banalitäten. Über Gefühle sprechen die Figuren kaum. Es gibt – zumindest bei den jungen Leuten – keine offensichtliche Leidenschaft, niemand schreit oder heult aus Lust oder Schmerz. "Ein beherrschter Mensch ist einfach schöner", hat Angela Schanelec in einem Interview gesagt. Und dass sie nicht daran glaubt, dass beim Zuschauer Emotionen erzeugt werden, indem man die Schauspieler nötigt, sich zu exaltieren. Ob Heirat, Schwangerschaft oder Tod - alles geschieht in ihrem Film so beiläufig, dass man manchmal den Eindruck hat, es passiere nicht viel. Dabei zeigt Angela Schanelec das "normale" Leben ziemlich komprimiert.
"Mein langsames Leben" ist sichtlich inspiriert von der Nouvelle Vague, man fühlt sich gleich an Rohmer-Filme erinnert. Auch die Fotografie wirkt irgendwie "französisch". Die Bilder sind sommerlich luftig, heiter leuchtend, transparent; viele Szenen spielen draußen, manche auf einem Balkon oder vor einem Fenster. Das ist ein schöner Kontrast zur Melancholie der Figuren, vielleicht auch eine Art Fußnote zur Gleichgültigkeit der Natur. Zur Natur zählen hier auch die Kinder: starke, schöne, rätselhafte Wesen. Wie Angela Schanelec sie inszeniert, erinnert an die Kinderporträts von Herlinde Koelbl.
"Passing Summer" heißt der Film in der englischen Fassung, damit ist der Sommer des Lebens, die - in vielerlei Hinsicht - Sonnenseite des Lebens gemeint. Für den Winter scheint Angela Schanelec sich nicht zu interessieren, aber er ist natürlich erahnbar, quasi im Off. Das Hauptthema des Films ist das Verhältnis zwischen den Generationen, damit ist "Mein langsames Leben" natürlich auch ein Film über die Zeit. Menschen ändern sich. Beziehungen sind vergänglich. Nichts trennt Menschen so unerbittlich wie die Zeit. Als Valeries Vater im Krankenhaus liegt, trifft sie sich mit ihrem Bruder, den sie sonst selten sieht. Bruder und Schwester tanzen zusammen in einer Disco. Und in dieser Szene ist alles drin: die Distanz zwischen den beiden Erwachsenen und die Erinnerung an eine frühere Intimität. Immerhin war der Bruder/die Schwester der erste Lebenspartner, den man gehasst und geliebt, mit dem man gespielt und rivalisiert hat. Als Erwachsener kann man das dann gar nicht fassen, was aus der Nähe von damals geworden ist.
Angela Schanelec untersucht solche Strukturen: was es bedeutet, Bruder und Schwester oder Eltern und (erwachsenes) Kind zu sein. An der Paar-Beziehung ist sie weniger interessiert. Die einzige Liebeserklärung in diesem Film macht ein Vater – gespielt von Rüdiger Vogler – seiner Tochter, die heiratet: "Man kann über einen Menschen nicht alles wissen", sagt er, "man kann, wenn man ihn liebt, aber sehr viel Zeit mit ihm verbringen." Angela Schanelec hat bei aller Distanz eine doch ähnliche Haltung zu ihren Figuren.
Die Zeit trennt. So gibt es eine große Distanz zwischen den Generationen: Ihr Doktorvater (Hans-Michael Rehberg) kann mit Valeries Arbeit nichts anfangen, und der geheimnisvolle Übervater in Paris, zu dem Thomas zu einem Interview fährt, sagt nichts, man hört vor allem die Vögel vor seinem Fenster. Während die älteren Darsteller kurze, dafür sehr prägnante Auftritte haben, beeindrucken die jungen Schauspieler durch ihre Zurückhaltung. Sie spielen, als ob sie sich selbst dabei zusehen würden und schaffen so eine Unsicherheit und Befangenheit der Figuren, die in Filmen selten zu sehen ist. Filmfiguren wirken ja meistens fast unnatürlich selbstvergessen. Vor allem Ursina Lardi lässt uns immer spüren, dass sich dieser Mensch, den sie darstellt, seiner selbst bewusst ist, ohne besonders schüchtern zu sein. Durch diese Art zu spielen, die Alltags-Dialoge und die langen Einstellungen entsteht ein Realismus, der durch und durch künstlich wirkt.
Die Figur, die am natürlichsten wirkt, aber am wenigsten realistisch ist, ist Maria (Sophie Aigner). Sophie Aigner hatte schon in "Plätze in Städten" die Hauptrolle gespielt. Jetzt ist sie das Kindermädchen, auch die Kind-Frau. Sie hat das Bewusstsein der Älteren und die Kraft der ganz Jungen, noch lebt sie ganz und gar in der Gegenwart. Sie ist 21 und wird im Verlauf des Films heiraten. "Später macht man es nicht mehr", sagt sie. Maria, die übrigens einen Josef heiratet, verkörpert Kraft, Einheit, Optimismus. Angela Schanelec nennt sie ein "Geschenk", an sich und ihre Zuschauer.