Die Straße

Deutschland 1923 Spielfilm

Die Straße


Siegfried Kracauer, Frankfurter Zeitung (Stadt-Blatt), 3.2.1924


Der Film: "Die Straße", der jetzt in den U. T.-Lichtspielen zu sehen ist, stellt das Zusammentreffen von schmachtender Seele und existenzlosem Geschiebe lautlos und schauerlich dar. Der Augenblick, der lediglich Punkt in der Zeit ist, wird in ihm Sichtbarkeit, die Typen, zu denen die Gesamtmenschen entsinken, wenn sie ihrer Wirklichkeit verlustig gehen, bewegen sich in ihm gleich Schemen durch die schemenhafte Welt. Der Ehemann (Eugen Klöpfer) liegt zu Beginn auf dem Sofa in spießbürgerlicher Stube, die Heimat sein soll, ohne es sein zu können. Während die Frau (Lucie Höflich), die in müßiger Abgeschlossenheit ihr Genüge findet, das Abendessen bereitet, schleichen Lichter der Straße durch die Vorhänge über die Decke, und ein Spiel von Silhouetten entwickelt sich, das den Träumer betört. Er blickt auf die Straße, und während die ihm folgende Frau nur die Straße sieht, wie sie ist, entschleiert sich ihm das sinnlose verlockende Durcheinander des taumelnden Lebens, das freilich genau so wenig Heimat wie die Stube ist, aber dafür Abenteuer und unausgekostete Möglichkeit. Der Film wird hier zur Folge futuristischer Gemälde, er drückt aus, was den Sehnsüchtigen bedrängt, und er darf es ausdrücken, weil nur zerstückelte Bilder noch wie Träume das sich verzehrende schon verlorene Innere erfüllen. Der Mann geht, wie ein Nachtwandler geht er hin, altväterlich gekleidet mit Baumwollschirm und biederem Hut, er wandert von Straße zu Straße, verstört und allein inmitten des Gewoges der Passanten und der vorbeijagenden Automobile. Und nun kommt eines zum andern, der Knoten schürzt sich und entknotet sich wieder, denn alles ist ja nur Schein und bleibt, was es war: ein Nichts. Ein Mädchen, das an der Ecke steht, ist Sinnbild dieser Nichtigkeit, denn durch das Spiel der Schatten verwandelt es sich plötzlich in den Tod. Tot ist alles ringsum, und da die Menschen erstorben sind, gesellen sich die unbelebten Dinge ihnen wie selbstverständlich zu. Eine Kalkmauer kündet von Mord, und das Aufzucken der Lichtreklame täuscht das Flackern des Auges vor. Der Mann gerät an ein Mädchen (Aud Egede Nissen), das Mädchen führt ihn mit seinem Zuhälter (Anton Edthofer) zusammen, dessen Freund (Ludwig Trautner) mit von der Partie ist; ein Mann aus der Provinz (Leonhard Haskel) schließt sich an, man findet sich im Nachtlokal, der Mann gibt in der Spielwut einen Scheck hin, der ihm nicht gehört, und gewinnt ihn wieder und mehr dazu – es ist alles nicht wirklich und Tragik fehl am Platz –, immer mehr erweitert sich das "Nebeneinander", ohne daß es je zum Ineinander würde. Die darin aufgehen, sind tot, und einsam wie der Blinde (Max Schreck), die kein anderes Leben zu finden wissen. Zuletzt ermordet der Zuhälter den Mann aus der Provinz und gesteht nach anfänglichem Leugnen die Tat, weil sein Kind (Sascha) ohne Wissen ihm den Weg zu seinem verlorenen Selbst weist – dies das einzige Geschehen, das ohne Grauen der Leere ist und darum aus dem Gefüge der Szenen entgleitet. Das Kind, das sich und die Welt nicht kannte, ist das allein wirklich Seiende in diesem Tohuwabohu, und ihre Vorsehung ist sehr folgerichtig die Polizei, deren Ordnungsdienst das nur mehr äußere Leben völlig umgreift. Das Ganze schließt, wie es begonnen hat. Der Ehemann, gereinigt vom Mordverdacht, kehrt am frühen Morgen über die kahle Straße zurück, auf der Papierfetzen umherwirbeln, die verschlafene Frau reicht ihm die aufgewärmte Suppe, und beide blicken noch einmal durchs Fenster, ernüchtert er, mit dämmerndem Verstehen sie.

Der Film ist eine Meisterleistung des Regisseurs Karl Grune und seiner Helfer, zu denen auch Ludwig Meidner gehört. Auch die schauspielerischen Leistungen sind vollendet, Blick und Gebärden sagen restlos, was auszudrücken ihnen obliegt und treten ganz und gar ein für das überflüssige Wort. Filmwerken dieser Gattung gehört die Zukunft.

Siegfried Kracauer: Werke. Band 6. Kleine Schriften zum Film. Herausgegeben von Inka Mülder-Bach. Unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl. 3 Teilbände. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Alle Rechte vorbehalten. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

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