Akribie und Gewissenhaftigkeit
von Jeanpaul Goergen
Heide Gauert, geboren 1942 in Berlin, hat Fotografin gelernt. Ab 1962 war sie als Standfotografin, Kamera- und Regie-Assistentin im DEFA-Studio für populärwissenschaftliche Filme tätig. Als festangestellte Regisseurin beim DEFA-Studio für Dokumentarfilme, Produktionsgruppe "forum" realisierte sie zahlreiche Auftragsfilme für das Fernsehen der DDR, darunter auch acht Filme über Berlin.
In einem biografischen Artikel über Heide Gauert heißt es: "Ihre wichtigste Gabe: Grenzenlose Neugierde". Ihre Themen sind entsprechend breit gestreut: Klassische Kulturfilmsujets wie "Sachsens Silber" (1985), Künstlerporträts etwa des Dresdner Malers und Grafikers Wilhelm Rudolph ("Der Wächter der Stadt", 1979), historische Stoffe wie ein Film über die Jugendjahre Martin Luthers ("Der Schüler aus Mansfeld", 1983) sowie Berlin-Filme. Nach der Revolution 1989 drehte sie weiter, sogar mehr als zu DDR-Zeiten, vor allem Filme über technische Themen wie über den Rückbau des Kernkraftwerks Greifswald, den Autobahnbau sowie über Ereignisse in ihrer Heimatstadt Falkensee. 2017 entstand mit "Sie nannten mich Benjamin" noch ein Porträt des Falkenseers Erhard Stenzel, damals der letzte lebende Deutsche, der in der französischen Résistance aktiv war. Die Filmografie von Heide Gauert summiert sich auf rund 150 Titel.
In ihren Arbeiten präsentiert Heide Gauert ihr jeweiliges Thema mit Einfallsreichtum und konzentriertem Blick, mit wachen Augen und einer großen Offenheit und Interessiertheit. Sie beobachtet und dokumentiert, will informieren und lehren, ohne aber zu belehren. Sie nimmt uns sachte an die Hand, und wir lassen uns willig führen, folgen ihrem Blick und wundern uns überrascht, dass uns dies und jenes gar nicht aufgefallen ist, obwohl es doch so offensichtlich ist.
Ihre Berlin-Filme sind ruhige Filme in der DEFA-Tradition des geduldigen, ja zurückhaltenden Beobachtens. Handwerklich zeigen sie die gediegene Tradition der DEFA, alle Gewerke arbeiten auf einem handwerklich hohen Niveau. Das Erzähltempo der Filme ist deutlich ruhiger und langsamer als vergleichbare West-Filme oder auch Produktionen des DDR-Fernsehens, die häufig unter dem Diktat der Schnelligkeit leiden. Auch fehlen die so genannten "sprechenden Köpfe" – die heute in fast jeder Dokumentation auftauchenden Experten bzw. Zeitzeugen. Auch Heide Gauert griff auf den Rat von Experten zurück, die im Abspann der Filme angeführt werden; die historischen Gegebenheiten filmisch vorzustellen und anschaulich zu machen, fiel dann aber wieder in ihre Kompetenz. Sie sicherte sich auch die Kontrolle über die Einstellungen: Keine Aufnahme entstand, ehe sie diese nicht an der Kamera überprüft und freigegeben hätte. Die Filme von Heide Gauert sind populärwissenschaftlich im besten Sinne des Wortes – eine Gattung des dokumentarischen Filmschaffens, die häufig im Schatten des sozial engagierten und autorengeprägten Dokumentarfilms steht, aber nicht minder bedeutsam und gesellschaftlich relevant ist.
Ihr erster Berlin-Film "Interview mit Kostbarkeiten" (1975) über die Sammlungen des Kunstgewerbemuseums Schloss Köpenick ist noch stark populärwissenschaftlich geprägt. Sieben Jahre später weist "Das vergessene Schloss" bereits deutlich ihre Handschrift auf. Nun wird das Schloss in die Geschichte des Ortes eingebettet, Urkunden, Stiche und alte Fotos hinzugezogen und die im Museum ausgestellten Objekte aus ihrer Zeit heraus erklärt. Der Kommentar ist zurückhaltend, die Musik setzt nur Akzente.
1984 dokumentiert Heide Gauert unter dem Titel "Rückkehr der Musen" den Wiederaufbau des Schauspielhauses am Platz der Akademie, heute: Konzerthaus Berlin am Gendarmenmarkt. Die Langzeitbeobachtung war 1979 von Peter Zenthöfer begonnen worden. Neben Rückgriffen auf die Geschichte des Hauses und des Platzes, mit historischen Zeichnungen und Filmausschnitten sowie kleinen Animationen, konzentriert sie sich auf die Arbeit der an der Rekonstruktion beteiligten Handwerker. Obschon zur Wiedereröffnung des Hauses entstanden ist "Rückkehr der Musen" kein Jubelfilm, sondern eine kluge, ja auch kurzweilige Montage aus historischen Fakten und dem fortschreitenden Baugeschehen. Ganz ohne ideologische Einfärbung kommt der Film dann doch nicht aus, wenn gegen Schluss der Wiederaufbau des Hauses mit der Friedenspolitik der DDR verknüpft wird und in den Kontext einer neuen sozialistischen Kultur gestellt wird. 1987 sendete das ZDF eine auf 30 Minuten gekürzte Fassung ohne Hinweis auf die DEFA als Produzentin.
In "Aber das kennt man doch alles" (1984) gelingt es Heide Gauert, den immer wieder abgelichteten historischen Bauten Unter den Linden eine neue Note und überraschende Blickwinkel abzugewinnen. Sie sucht aber nicht die gewagte Kameraposition als Ausdruck einer avantgardistischen Einstellung, sondern bleibt Beobachterin und Dokumentaristin. Wie so häufig setzte sie auch hier alle Hebel in Bewegung, um etwa einen Kran für Nahaufnahmen vom Reiterstandbild Friedrichs des Großen zu bekommen oder einen Helikopter für Flugaufnahmen über Berlin zu organisieren.
In "Eine Stadt im Frühlicht" (1984) gruppiert sie die wenigen erhaltenen Zeugnisse des mittelalterlichen Berlins zu einer unterhaltsamen Zeitreise. "Hugenotten in Berlin" (1985) – zum 300. Jahrestag des Edikts von Potsdam 1685 – ist ein starkes Plädoyer für gesellschaftliche Toleranz. Mit feiner Ironie hebt "Im Auftrag des Königs" (1987) auf die Abhängigkeit der Bildhauer Johann Gottfried Schadow und Christian Daniel Rauch vom Wohlwollen der Herrschenden ab. Heide Gauert stellt deren Arbeiten in den Kontext der politischen und gesellschaftlichen Zeitumstände und arbeitet die in ihnen enthaltenen Widersprüche der Zeit heraus. Der Film musste sich den Vorwurf der Preußen-Rehabilitation gefallen lassen, rekurriert er doch auf die 1979 in der DDR erschienene Biografie von Ingrid Mittenzwei über Friedrich II. von Preußen, die eine Abkehr von der bis dahin einseitigen Darstellung Preußens einläutete.
"Glockengießer" (1987) greift ein für den DEFA-Film typisches dokumentarisches Genre auf – Filme aus der Arbeitswelt. Heide Gauert beobachtet eine kleine Gruppe von Arbeitern im VEB Leichtmetallguss in Pößneck/Thüringen, die einen ungewöhnlichen Auftrag bewältigen müssen. Die 60 Glocken für das Carillon im Turm des Französischen Doms sollten eigentlich in Apolda hergestellt werden, termingerecht zur 750-Jahr-Feier Berlins. Allerdings war das dort aufgrund der veralteten Anlagen nicht möglich. Da sprangen die Pößnecker ein, tüftelten und improvisierten, entwickelten ein vollkommen neues Gussverfahren und stellten das Carillon termingerecht fertig. Die Regisseurin verzichtet auf die in DDR-Filmen häufig anzutreffende Heroisierung der Arbeiter, betont aber deren Leistung, die durchaus stellvertretend für viele andere DDR-Betriebe und deren Beschäftigte zu sehen ist, die oft vor ähnlichen Problemen standen.
1988 folgte "Stadtbaukunst von gestern und heute" über die wenigen erhaltenen historischen Bauten der historischen Mitte Berlins sowie das zur 750-Jahr-Feier der Stadt neu errichtete, historisierende Nikolaiviertel. In ihrem letzten Berlin-Film für die DEFA und das Fernsehen der DDR stellt Heide Gauert in "Das Haus hinter dem Kupfergraben" das Bode-Museum auf der Museumsinsel vor. Sie arbeitet die Konzeption des von Wilhelm von Bode entworfenen Museums heraus, das 1904 als Kaiser-Friedrich-Museum eröffnet wurde und nach Beseitigung der Kriegsschäden 1956 in Bode-Museum umbenannt wurde. Erst nach zahlreichen Mühen und Ärgernissen, durch Katzbuckeln und kluges Kalkül sei es Bode gelungen, Politik und Finanzwelt für seine Idee zu gewinnen: eine dezente Anspielung auf die DDR-Kulturpolitik. Der Kamerabesuch des Museums lässt dem Betrachter viel Zeit, sich auf die Exponate zu konzentrieren; der Kommentar appelliert an Fantasie und Toleranz und betont angesichts mittelalterlicher Plastik die Würde des Menschen.
(Jeanpaul Goergen, Juni 2023. Der Text beruht auf den Vorführungen der Berlin-Filme von Heide Gauert im Rahmen der Reihe "Berlin.Dokument" im Zeughauskino, Berlin. Mit Dank an das Deutsche Rundfunkarchiv)
Literatur: Volker Petzold: Heide Gauert: Grenzenlose Neugierde. In: Cornelia Klauß, Ralf Schenk (Hg.): "Sie. Regisseurinnen der DEFA und ihre Filme". Berlin 2018, S. 106-114.