Vertrauen – Prüfstein für alle
Margit Voss, Film und Fernsehen, Berlin/DDR, Nr. 7, 1980
Eine Rezension mit einer Liebeserklärung an den Film zu beginnen ist nicht üblich. Ich bin für das Unübliche. Zumindest in diesem Fall. Aus Gründen, die zu erläutern hier versucht werden soll. Die Hinwendung vieler DEFA-Autoren und Regisseure zum Alltag des Individuums, zu seinem Glücksanspruch, seinem Selbstverwirklichungsstreben, seinen Konflikten mit der Umwelt im engeren, der Gesellschaft im weitesten Sinne ist in jüngster Zeit als Tendenz immer deutlicher sichtbar geworden. Charaktere wie "Sabine Wulff", Sonja und Jens ("Bis daß der Tod euch scheidet"), Schulle ("Schatzsucher"), Fräulein Broder ("Glück im Hinterhaus") und Sunny provozieren den Betrachter, eigene Erfahrungen an dem moralischen Anspruch unserer Gesellschaft zu messen und aus der Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit Impulse für die Bewältigung eines neuen Wegabschnitts zu gewinnen. Einwände und kritische Anmerkungen betreffen weit stärker als den Helden selbst dessen Umwelt, beispielsweise jene Brigaden, in denen Jens und Schulle sich bewegen. Diese "Momentaufnahmen" erscheinen Kritikern wie Zuschauern in ihrer Verkürzung oft zu simpel, zu oberflächlich, mitunter gleichsam nur als Alibi.
Im Sozialismus gewinnt das Kollektiv persönlichkeitsbildende Funktion. So lehrt es die Wissenschaft, so beweist es die Realität. Diesen Prozeß der Persönlichkeitsentfaltung im Kollektiv durch kollektives Handeln künstlerisch darzustellen ist bisher aber noch zu selten gelungen; "Lachtauben weinen nicht" von Helmut Baierl und Ralf Kirsten bildet die Ausnahme. Das hat Gründe. Die Phantasie der Autoren wird in den seltensten Fällen aus direkter Kenntnis betrieblicher Prozesse, kollektiver Arbeit in Produktionsbetrieben gespeist. Die Annäherung von außen jedoch bringt die Gefahr mit sich, Hilfskonstruktionen zu benutzen, um bestimmte Absichten auszudrücken. Das Figurenensemble wird dann oft nur nach dramaturgischen Gesichtspunkten zusammengesetzt, Typen stehen für Charaktere, Sentenzen für gedankliche Prozesse. Auch besteht die Gefahr, daß Arbeitsvorgänge sich unziemlich in den Vordergrund drängen (wie zum Beispiel in "Lachtauben weinen nicht") und die Sicht auf die Gruppe verstellen, intensivere Anteilnahme am Einzelschicksal verhindern. Es ist dem Schöpferkollektiv von "Alle meine Mädchen" – Gabriele Kotte, Tamara Trampe, Günter Hauboldt und Iris Gusner – gelungen, diese Klippen zu umschiffen und ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit zu erreichen. (Zusätzliches Vergnügen wird nicht wenigen Zuschauern die Hommage für Jürgen Böttcher bereiten, der seinen unvergessenen Dokumentarfilm "Stars" vor Jahren im gleichen Betrieb gedreht hat.) Ich halte den Kunstgriff, dessen die Filmemacher sich hier bedienten, für glücklich und legitim: Die Sicht auf eine Frauenbrigade im Berliner Glühlampenwerk erfolgt aus dem Blickwinkel eines Filmemachers, eines Regiestudenten. Dieser "Mann von draußen" muß nicht zum Tausendsassa umfunktioniert werden, der allen etwas vormacht, es genügt, daß er da ist. Denn schon die Anwesenheit des Ralf Päschke und seiner Kamera bewirkt, daß die Frauen ihren Alltag – die Arbeit wie auch die Art des Miteinander-Umgehens – kritischer Prüfung unterziehen. Unterschwelliges wird dabei auf den Punkt gebracht, da eine Klärung unumgänglich wird. Das Einbeziehen des Fremden ins Brigadeleben vollzieht sich von vornherein unter dem Aspekt des Hauptmotivs: das Vertrauen als moralische Kategorie. Es wird zum Prüfstein für alle. An ihm haben sich private Beziehungen zu messen und kollektive. Und auch Ralf kann sich dieser Prüfung nicht entziehen, die er nicht bestehen wird. (…)