Engel & Joe

Deutschland 2000/2001 Spielfilm

Engel & Joe

Vanessa Jopps Straßenkinder-Drama



Martina Knoben, epd Film, Nr. 11, 26.10.2001


Der zweite Film ist oft der schwerste, sagt man. Das gilt natürlich besonders, wenn der erste solche Erwartungen geweckt hat wie Vanessa Jopps "Vergiss Amerika". Ein schönes Debüt war das, sehr frisch, selbstsicher und lebendig. Vanessa Jopp gilt seitdem als eines der größeren Talente des deutschen Films. Und um es gleich zu sagen – ihr neuer Film "Engel & Joe" wird den Erwartungen nicht gerecht, obwohl er durchaus gelungene Elemente hat.

Nach einer Reportage des Journalisten Kai Hermann wollte Vanessa Jopp aus der Geschichte zweier Straßenkinder ein Teenager-Drama mit ganz großen Gefühlen machen. "Eine wahre Liebe gegen den Rest der Welt", heißt es im Presseheft. Dass der Film nicht so richtig funktioniert, liegt unter anderem daran, dass sich eine hochdramatische Situation an die nächste reiht. Joe (Jana Pallaske), die eigentlich Johanna heißt, haut von zu Hause ab und trifft Engel (Robert Stadlober), der auf der Straße lebt. Die beiden verlieben sich ineinander. Im Verlauf des Films wird Joe von Skins bedroht, schläft Engel mit einer anderen, begeht Joes Mutter beinahe Selbstmord, landet Engel zweimal im Knast, wird Joe vergewaltigt und davon schwanger, etc. Es passiert so viel, dass anscheinend kein Platz mehr war für sorgfältig ausgearbeitete Details. Dabei sind es die Details, die so ein Leben erst nachfühlbar machen. Vanessa Jopp hat sich noch dazu entschieden, bei allen diesen Handlungsstationen immer die Aktion – den Höhepunkt, wenn man so will – zu zeigen, seltener den Widerhall bei den Figuren. So sehen wir beispielsweise die Geburt von Joes Kind – Joes Leben mit dem Baby aber sehen wir kaum. Und auch der Kindsvater (es ist nicht Engel) bleibt ein Abziehbild, so dass es kaum berührt, als Joe ihn an Weihnachten einfach stehen lässt. Dass Joe und Engel nicht nur sich selbst, sondern auch anderen Menschen weh tun mit ihrer Art zu leben, hätte zu einem "emotional radikalen Film" (denn das soll "Engel & Joe" laut Presseheft sein) unbedingt dazugehört. Die Opfer dieser Liebe – das Mädchen, das Engel anhimmelt, Joes Mutter oder der Vater von Joes Kind – aber werden von den Autoren irgendwann vergessen.

Auch "die Straße" wirkt wie eine Kulisse. Obdachlose im Film zu zeigen, ist allerdings auch besonders schwer. Hier reagiert man weniger mit Mitgefühl als mit Distanz. Dabei basiert "Engel & Joe" auf einer "wahren Geschichte". Kai Hermann, der 1978 mit seinem Buch "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" berühmt wurde, hatte für seine "Stern"-Reportage mehr als ein Jahr lang Berliner Straßenkinder begleitet.

Die Verfilmung wurde fast ausschließlich mit der Handkamera gedreht, aber in CinemaScope. Das ist ein Indiz dafür, wie Vanessa Jopp Authentizität und Attraktivität verbinden wollte. Die wackeligen, gelegentlich unscharfen Bilder erinnern an die Dogma-Bewegung. Das Gewackel wirkt hier allerdings wie ein Look, der Leidenschaft und Echtheit suggerieren soll.


Jugendliche habe es heutzutage schwer, ihre Abenteuerlust auszuleben. Alles scheint schon mal dagewesen: Es gibt Aids, und so ein junges Leben ist schnell verbaut. Das erklärt vielleicht, warum "Engel & Joe" irgendwie "falsch" wirkt. Nicht das Leben der beiden an sich, aber die Intensität dieses Lebens wird romantisiert. Vermutlich, weil Engel und Joe die starken, eindeutigen Gefühle ausleben, nach denen viele junge Menschen sich so sehnen. So ist "Engel & Joe" weniger ein Film über eine bedingungslose Liebe geworden, als über die Sehnsucht danach.

Schon in "Vergiss Amerika" hatte Vanessa Jopp die Probleme ihrer Figuren "existenzieller" machen wollen, wie sie gesagt hat, indem sie die Geschichte in den so genannten neuen Bundesländern angesiedelt hat. Damals war sie allerdings klug genug, diesen Hintergrund sehr zurückhaltend zu behandeln.

Die beiden Hauptrollen in "Engel & Joe" spielen Jana Pallaske, die in "alaska.de" auf sich aufmerksam gemacht hatte, und Robert Stadlober, der seit "Crazy" schon fast als deutscher Jungstar gelten kann. Und ihre Figuren überzeugen in vielen Momenten, Engels Labilität zum Beispiel ist gut erfasst. Sein Überschwang und seine Abhängigkeit von Joe sind eben nicht nur typisch für die erste Liebe, sondern kennzeichnen auch einen Jungen, der bisher wenig Liebe kennen gelernt hat. Engel, erfährt man, ist ein Heimkind und Ex-Junkie. Und wenn er Joe nun einen Heiratsantrag macht, ist das auch die Anhänglichkeit der Haltlosen. Ein erster Riss geht durch die Beziehung, als Joe ihrer Mutter helfen muss, deshalb Engel versetzt und Engel kein bisschen Verständnis dafür hat, sich auch kein bisschen für Joes Mutter interessiert. "Mir gehts total dreckig und du drehst durch wegen so "ner Mini-Lappalie", schreit Joe. Und als Engel glaubt, Joe verloren zu haben, tritt er grundlos und brutal auf einen Radfahrer ein. Engel ist ein Verlorener, das ist von Anfang an klar. Überraschend ist nicht, dass er immer wieder genau das Falsche tut, überraschend ist, dass Joe alle seine Fehler mit ihm mitträgt.

Schön sind auch die "kleinen", weniger dramatischen Momente des Films, wenn beispielsweise Joe, obwohl sie doch jetzt mit Engel auf der Straße lebt, wieder zur Schule gehen will. Oder wenn Joe sich um ihre Mutter kümmert, die von ihrem Freund verlassen wurde, und dabei viel erwachsener wirkt als diese. Das sind Momente, in denen die Figuren fühlbar werden – auch das, was nicht gezeigt wird, etwa Joes Leben mit ihrer von Männer und Medikamenten abhängigen Mutter. Und man kann sich vorstellen, was Joes und Engels Geschichte hätte erzählen können über die Stärke und Unschuld der Jungen. Tatsächlich aber ist vor allem Sehnsucht zu spüren: nach Gegenwart, nach Wirklichkeit, nach einem Leben, in dem es um etwas geht. Je bunter und lautstarker dieses Leben hier aber beschworen wird, desto mehr entzieht es sich auch.

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