(Ver-)Wandlung
Rainer Heinz, film-dienst, Nr. 22, 26.10.1999
Ein Mann weint. Er war einmal ein ebenso erfolgreicher wie arroganter Rechtsanwalt, der mit dem Hochmut eines Yuppie-Schnösels wegen einer Bagatelle ins Gefängnis ging und jetzt zu zerbrechen droht. Nach einem extrem brutalen Übergriff seiner Mitgefangenen kehrt er mit eingeschlagenem Schädel in seine Zelle zurück, erblickt im Spiegel seinen geschorenen Kopf – und kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Und noch ein Mann weint. Rechtsanwalt auch er, hat er sich blenden lassen von der vermeintlichen Faszination eines vollkommenen Unmenschen. Seit Jahren fesselt ihn der bizarre Nimbus eines Massenmörders, dessen Geschichte er publizistisch aufarbeiten will. Jetzt verlangt ihn das zum Greis gewordene Ungeheuer als Verteidiger. Während sich der Advokat im unheilvollen Dunstkreis des Kriegsverbrechers verfängt, fallen seine Ehe, seine Freundschaften, seine ganze Persönlichkeit in Trümmer. Seine schwangere Frau, die sich angesichts seiner seltsamen Hingabe an den spektakulären Prozess mehr und mehr von ihm abwendet, wird während eines Attentats von Rechtsradikalen verletzt. Verwirrt, überfordert, hin- und hergerissen zwischen Abscheu und Anziehung, vom medienwirksamen Mandat ebenso beeindruckt wie vom zerbrechenden Privatleben – so bricht der erfolgsverwöhnte Jurist am Krankenbett seiner Frau in Tränen aus. Zwei Männer, die mit der Komplexität der selbst beschworenen Emotionen nicht mehr fertig werden; zwei Filme, in denen Regisseur Roland Suso Richter den "Entwicklungsroman" eines bei aller Intellektualität eher auf vordergründige Ziele fixierten Menschen ausbreitet; zwei Charaktere, die der deutsche Schauspieler Kai Wiesinger mit enormer Intensität, aber ohne aufdringliches Pathos in ihrer ganzen Zwiespältigkeit aufzeigt: in "14 Tage lebenslänglich" (1996) und dem Polit-Thriller "Nichts als die Wahrheit" (1999). Nachdem ihm die Kritik bereits beim Gefängnisdrama den erfolgreichen "Sprung ins dramatische Fach" und eine "erstaunliche physische Präsenz" attestierte, dürfte sich der einstige Bubi-Darsteller mit dem gesellschaftspolitisch engagierten "courtroom"-Drama endgültig als Interpret psychologisch komplexer Gegenwartsfiguren etabliert haben. Die Popularität des 33-jährigen Schauspielers mag sich auch an der Tatsache ablesen lassen, dass ihn selbst die "Frau im Spiegel" als "das, was man einen Star nennt" illustriert.
Natürlich kann ein Schauspieler seine Qualitäten durchaus auch im komischen Fach unter Beweis stellen: Kai Wiesinger war schon in der kurzen Epoche der neuen deutschen Beziehungskomödien ein vielbeschäftigter Akteur. Am 16. April 1966 in Hannover geboren, nahm der Sohn eines Journalisten-Ehepaares noch vor dem Abitur privaten Schauspielunterricht bei Günter Kütemeyer und Wolfgang Pauls vom Niedersächsischen Staatstheater. Nach der Zivildienst-Zäsur zog es ihn nach München, wo er 1990 im Team-Theater in der männlichen Titelrolle von "Harold und Maude" sein Bühnendebüt gab und sich neben der Verpflichtung am Bayerischen Staatstheater als Gründer einer eigenen Truppe betätigte. Dann kam "Kleine Haie" (1992), Sönke Wortmanns liebevolle Komödie um drei junge Aspiranten auf den Schauspielerberuf. Gedeon Burkhard mimte darin den sorglos-smarten Sohn reicher Eltern, der sich scheinbar eher aus einer Laune heraus an der Schauspielschule bewirbt. Jürgen Vogel, mit strähnigem Haar, schiefen Zähnen und dem Herz auf dem rechten Fleck, betritt die heiligen Hallen der Musenschmiede aus ganz anderen Gründen und wird nur aus Zufall als Eleve angenommen. Der Einzige, der es wirklich ernst meint mit den Brettern, die die Welt bedeuten, ist Kai Wiesinger als Johannes – ein zarter, für Prüfungsstress und Daseinskampf zunächst viel zu feinfühliger Jüngling, dessen pausbäckige Schüchternheit ganz entfernt an Harry Langdon erinnert. Johannes hat eine Banklehre abgebrochen und an sechs Schauspielschulen vergeblich vorgesprochen. Mit dem Monolog des Schillerschen Karl Moor scheitert er vor der Prüfungskommission der Folkwang-Schule ein siebtes Mal, ehe er sich zusammen mit Jürgen Vogel und Gedeon Burkhard auf den Weg nach München begibt. Nach einer Reihe sympathisch-amüsanter Alltagsabenteuer gelingt es doch noch jedem Mitglied des Trios, seinen Lebenswunsch zu verwirklichen. Johannes überwindet nach erneutem Scheitern in München endlich seine Prüfungsangst und macht in Berlin Karriere. Auch für Wiesinger haben sich die "Kleinen Haie" gelohnt, denn er erhielt (zusammen mit seinen beiden Partnern) auf Anhieb den Bayerischen Filmpreis.
Noch einmal gab ihm Sönke Wortmann in der köstlichen Homosexuellen-Farce "Der bewegte Mann" (1994) eine einprägsame Rolle. Als offensichtlich erfolgreicher Yuppie Gunnar hat er eine kurze Szene, an deren Ende die verwirrte Katja Riemann dem gerade in die "heiße Phase" eintretenden Tête-à-tête entschwindet. Gunnar bleibt erzürnt zurück, muss er doch zur Befriedigung seiner Verführungsgelüste erneut ausschwärmen. Dagegen wird der von Wiesinger gespielte Mitdreißiger Manuel in Gabriel Baryllis schwungvoller, in der Kritik ungerecht harsch beurteilter Flintenweiber-Posse "Honigmond" (1995) von seiner Frau (Veronica Ferres) verlassen, nachdem sie ihn im Clinch mit seiner Sekretärin auf dem Sofa erwischt; wenig später versetzt ihm das abtrünnige Ehegespons sogar eine Kinnhaken. Nicht viel besser ergeht es Zeno, jenem alleinerziehenden Uni-Dozenten, den Wiesinger in Sherry Hormanns Liebeskomödie "Frauen sind was Wunderbares" (1993) spielte. Hier trifft Wiesingers leicht linkische Verwirrung der Gefühle auf das selbstbewusste Phlegma des Macho-Verführers Thomas Heinze. Beide Schauspieler gestalten ihre jeweilige Standardrolle, mit denen sie zu den männlichen Top-Stars im kurzlebigen, aber durchaus erfrischenden Genre der neuen deutschen Beziehungskomödie avancierten. Heinze ist der wortgewandte, völlig von sich überzeugte Spring-ins-Feld mit spitzbübischen Knopfaugen, dessen chauvinistische Machismo-Tendenzen erst durch das Zusammentreffen mit einer nicht minder selbstbewussten Frau geläutert werden, während der zwei Jahre jüngere Wiesinger den empfindsamen, von Liebeshändeln häufig überforderten Zauderer spielt, durch dessen Teddybär-Charme die Mutterinstinkte seiner Partnerin mächtig angesprochen werden. Das Musische und Sensitive sind Eigenschaften, die gemeinhin gerne mit Homosexualität in Verbindung gebracht werden – und so erscheint Kai Wiesinger in "Stadtgespräch" (1995) als schwuler Schöngeist René, dessen kultivierte Attitüde ihn freilich nicht davor bewahrt, bei seinem neuen Geliebten (Moritz Bleibtreu) klar zwischen Geistesgaben und Bett-Qualitäten zu unterscheiden.
Problembewußte Charaktere
Während sich die Welle der teutonischen Liebeskomödien auf ihr (auch durch das inflationäre Angebot beschleunigtes) Ende zubewegte, übernahm Kai Wiesinger im Fernsehen verstärkt Aufgaben jenseits des publikumswirksamen "Type casts". In Michael Gutmanns "Stirb für mich" (1995) erschien er als Unternehmersohn, der im Urlaub eine zwielichtige Spanierin kennen lernt; Rainer Kaufmanns "Greenhorn" (1997) zeigte ihn als Reise-Journalist, der wider Willen zum Komplizen einer Juwelendiebin wird. Noch einmal übernahm er in "Still movin"" (1997), Niki Steins seltsame Mischung aus Musikkomödie und Road-Movie, eine heitere Rolle als Manager eines abgehalfterten Countrysängers. Danach besetzte ihn Joseph Vilsmaier in "Comedian Harmonists" (1997) als Pianist des Gesangsensembles. Der Klavierbegleiter Erwin Bootz wird hier als nonchalanter Lebemann porträtiert, der die Emigration der drei Mitglieder des Vokal-Sextetts eher ungerührt zur Kenntnis nimmt. Wiesingers Wechsel vom Typus der unsicheren Jungmänner zu komplexeren, auch problembewussteren Charakteren manifestierte sich schließlich in dem etwas schwülstigen Melodram "Hunger – Sehnsucht nach Liebe" (1996), mit dem Dana Vávrová als Regisseurin debütierte. Hier spielt er einen jungen Graffiti-Künstler, der der Bulimie seiner neuen Freundin (Catherine Flemming) zunächst verständnislos begegnet und erst peu à peu bereit ist, dieses Problem bewusst anzugehen. Den so symphatischen Bubi-Rollen sagte der Schauspieler – seit 1998 mit seiner langjährigen Lebensgefährtin Chantal de Freitas verheiratet und Vater einer Tochter – damit endgültig Adieu. Und wie zur Bestätigung des treudeutsch-"seriösen" Grundsatzes, dass nur ein ernster Schauspieler ein bedeutender Schauspieler sein kann, erhielt Wiesinger für seine darstellerische Leistung in"14 Tage lebenslänglich" und "Hunger – Sehnsucht nach Liebe" im Jahr 1998 noch einmal den Bayerischen Filmpreis.
Eine in jeder Hinsicht reife Darstellung gelingt ihm als junger Rechtsanwalt Rohm, der mehr und mehr in den Bann des einstigen KZ-Arztes Mengele (Götz George) gerät. Als Advokat des Teufels in Menschengestalt, der die ihm zur Last gelegten Perversionen, Sadismen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erst gar nicht leugnet, begibt sich Rohm sehenden Auges in die flirrende Abhängigkeit eines Dämons. Was ihn umtreibt, sind das Medieninteresse an dem spektakulären Prozess sowie die Frage, wie aus einem Durchschnittsmenschen ein bestialischer Schlächter werden kann. Diese Balance zwischen Monstrosität und Menschlichkeit, zwischen Normalität und Grauen beherrscht den Film nahezu vollständig. Es spricht – neben der präzisen Regie – für Kai Wiesingers einfühlsame Darstellung, dass auch die Zerrissenheit der zweiten Hauptfigur den Zuschauer permanent zu fesseln vermag. "Nichts als die Wahrheit" ist auch ein Erfolg des Charakterdarstellers Wiesinger.