Der Wald vor lauter Bäumen
Amoklauf nach Innen
Matthias Dell, Frankfurter Rundschau, 27.01.2005
Im deutschen Film sprechen die Hauptdarsteller hochdeutsch, der Dialekt ist reserviert für die Chargen. Das kann man exemplarisch im nach Sendeanstalten aufgeteilten "Tatort" beobachten, wo das starke Interesse, die jeweilige Region herauszustellen, sich meist in ein wenig Mundart-Folklore erschöpft. In Maren Ades Debütfilm "Der Wald vor lauter Bäumen" wird durchgängig Dialekt gesprochen. Während sich der Kenner an den Feinheiten des schwäbischen und badenser Zungenschlages erfreuen darf, mag der uneingeweihte Zuschauer das alles für ein Stückchen Komik halten. Maren Ade aber ist es ernst, und führt vor, was mit dem Schwäbischen jenseits des Komischen zu gewinnen ist: das präzise Portrait einer Lebenswelt, in der das kleine Glück mehr zählt als die große Ambition.
Der Auftakt von "Der Wald vor lauter Bäumen" ist ein Lehrbeispiel ökonomischen Erzählens. Man sieht die Protagonistin beim Einzug in eine neue Wohnung, unterstützt von den Eltern und dem Ex-Freund, und wie sie kurz darauf an den Türen ihrer Mitmieter klingelt: "Grüß Gott, ich bin die Melanie Pröschle, und ich hab ihnen ein Willkommensgeschenk mitgebracht, einen Selbstgebrannten." Der Zuschauer, an den sich Melanie Pröschle fast direkt wendet, weil die Vorstellungsszene aus Sicht der Hausbewohner gefilmt ist, erfährt so in drei kurzen Strichen mehr über eine Figur als andere Spielfilmdebüts in neunzig Minuten zu berichten vermögen.
Er trifft auf eine schüchtern-lebensmutige Frau, die nach dem Studium ihre erste Stelle als Lehrerin an einer Realschule im fremden Karlsruhe antritt. Eine frisch allein Stehende, die im Moment des Abschieds ahnt, dass die Trennung vom Freund nach acht Jahren härter werden könnte als vermutet. Eine Frau am Neubeginn, die sich dem Unbekannten mit einem Optimismus entgegen wirft, dem Verzweiflung anhaftet. Melanie Pröschle ist eine dialektische Figur: Gerade weil sie alles richtig machen will, muss sie scheitern.
Bei der Präsentation im Lehrerkollegium verspricht sie "frischen Wind" und hat alle alten Männer gegen sich, die unterrichten, wie sie immer unterrichtet haben. Bei den Schülern will sie beliebt sein und vergibt sich so den Rest einer Autorität, die sie von Natur aus nicht hat. Das Hauptaugenmerk richtet der Film auf die Versuche seiner Heldin, sich mit der Nachbarin und Boutiquenbesitzerin Tina (Daniela Holtz) anzufreunden. Eine Freundschaft, die nicht funktionieren kann, weil ihr gänzlich unterschiedliche Vorstellungen zu Grunde liegen: Wo Tina beiläufig ist, fordert Melanie Korrektheit. Wenn die eine sagt, ich rufe dich später noch an, bricht die andere alle Telefongespräche mit dem Hinweis darauf ab, dass sie noch einen Anruf erwarte, um dann aus Ungeduld gleich selbst zur Freundin zu gehen. Die Ungeduld, die aus blindem Unverständnis für die andere resultiert, ist der Nährboden des Misstrauens, das schließlich in Paranoia übergeht: Melanie wacht am Fensterbrett über Tinas Leben, aus dem sie sich ausgeschlossen fühlt. Sie erkennt ihre Selbstgerechtigkeit nicht, weil sie hinter aufrichtig gemeinter Güte versteckt ist.
Eines der Kunststücke, die Maren Ade vollbringt, ist das Finden sinnstiftender Details – Melanies etwas zu praktische Kuchendose oder die ungelenk-beflissene Art, wie ihr "schlaumeierischer" Kollege Torsten (Jan Neumann) seine Brille mit dem Mittelfinger auf die Nase schiebt. "Der Wald vor lauter Bäumen" ist ein Film der feinen Unterschiede, der die peinlichen Schwächen seiner Hauptfigur nie zum Anlass nimmt, sich über sie lustig zu machen. Weil er ihr aber auch billigen Trost verweigert, wird das Zusehen manchmal zur Zumutung.
Man möchte wegschauen, wenn Melanie sich wiederholt um Kopf um Kragen redet. Man erträgt die Kluft zwischen Lüge und Wirklichkeit schwer, in die sich selbst begeben hat, weil sie ihre Hilflosigkeit nicht zugeben will. Ihre Verzweiflung verdichtet sich zu einem Amoklauf nach innen: Von der Flucht vor dem Lehrerzimmer über Tränenausbrüche auf dem Klo und die Verwüstung der eigenen Wohnung bis hin zu einer zutiefst berührenden Schlussszene. "Der Wald vor lauter Bäumen" ist ein großartiger und ein erschütternder Film. Wenn man den Schauspielern zusieht, die – allen voran Eva Löbau als Melanie – in anderen Rollen unvorstellbar scheinen, kann man vergessen, dass man sich im Kino befindet.