Aus der Ferne sehe ich dieses Land

BR Deutschland 1977/1978 Spielfilm

Erfahrungen, seitenverkehrt

Christian Ziewers Film "Aus der Ferne sehe ich dieses Land"



Wolfram Schütte, Frankfurter Rundschau, 16.09.1978

Christian Ziewer hat für seinen vierten langen Spielfilm "Aus der Ferne sehe ich dieses Land", der bereits kurz im Sommer in Berlin lief (und nun dort erneut und in verschiedenen anderen Städten der Bundesrepublik zum erstenmal in die Kinos kommt), wohlwollende, zustimmende, ja sogar begeisterte Kritiken erhalten. Hörbar war das Aufatmen der Kritik. Da habe einer, der mit seinen frühen Filmen aus dem bundesdeutschen Arbeits- und Gewerkschaftsalltag ("Liebe Mutter, mir geht es gut", "Schneeglöckchen blühn im September" und "Der aufrechte Gang") schwerfällig-didaktische "Fernsehfilme" vorgelegt habe, endlich zum Kino gefunden. Von einer "bisher bei Ziewer ungewohnten Unmittelbarkeit" der Darstellung war die Rede, "Doch nie" habe er "Personen so offen und zugleich genau geschildert"; und schließlich: "Sein Film ist ein tieferer und listigerer Vorstoß in unsere politische Wirklichkeit als alle (anderen bundesdeutschen) Produktionen der letzten Zeit".

Nach einem Drehbuch des chilenischen Schriftstellers Antonio Skarmeta (er hat schon die Vorlagen für Peter Lilienthals "La Victoria" und "Es herrscht Ruhe im Land" geschrieben), erzählt "Aus der Ferne sehe ich dieses Land" alltägliche Lebenserfahrungen einer exilchilenischen Familie im West-Berlin unserer Tage. Es sind bittere Erfahrungen des Unverständnisses und der Kälte, des Mißtrauens, der Hilflosigkeit und der Apathie; vor allem aber Erfahrungen im täglichen Kampf um die Erhaltung des revolutionären und utopischen Funkens, auf den die frühere Teilhabe der Familie an der Unitad Popular (vom Großvater über Vater und Mutter bis zu den zwei Söhnen) zusammengesunken ist.

Das sind Prozesse zwischen Anpassung und revoltierendem Eingedenken, in die auch schon früher die Helden Ziewers gestellt waren – jene Arbeiter und Gewerkschaftsfunktionäre, welche über die Niederlagen ihrer Klassenkampfaktivitäten den Gedanken an den "Aufrechten Gang" nicht aufzugeben sich abmühten.

Neu ist nun, daß Ziewer einen anderen Zugang zu der ihn (und nicht nur ihn) beunruhigenden Frage gesucht hat, wie denn auf dem langen Marsch, seinen Umwegen, Rückzügen. Stillständen, das Ziel nicht aus den Augen verloren werden kann: wodurch und womit?

Denn die Chilenen, die aus der Ferne dieses Land sehen, in dem sie eher widerwillig als mit offenen Armen aufgenommen, wurden, bringen nicht nur eine andere soziale Familienstruktur mit (in der noch der Vater patriarchalisches Oberhaupt ist), eine andere autochthone Volkskultur, in der sich ihre Lebenserfahrungen durch Tanz so gut wie durch Feste artikulieren, sondern sie haben einen Vorschein dessen schon wirklich und aktiv erlebt, von dem die Linke bei uns bisher immer nur träumen durfte: die alles durchdringende Politisierung des Alltags in der Volksfront.

Was Ziewers Film nun beschreibt, das ist ein Erosionsprozeß, dem Familienstruktur, Lebenskultur und politisches Eingedenken inmitten und durch die bundesdeutsche Wirklichkeit ausgesetzt sind. Der Vater, als "Sicherheitsrisiko" nach einer "Anhörung" eingestuft, verliert seine Arbeit; das Chilekomitee kann seinen Fall nicht an die Öffentlichkeit bringen, weil in der schon zur Tagesordnung übergegangen wurde; arbeitslos versinkt er in Apathie; während der ältere seiner Söhne die Schule schwänzt, um mit seiner Arbeit seiner Familie ein Zubrot zu verschaffen, schmökert der Benjamin Comics und hängt am Fernsehen.

Ziewer führt diesen vielfältigen Verfallsprozeß verschiedenartig vor Augen und Ohren: durch das unterschiedliche Verhältnis der Person zur deutschen Sprache, durch ihre Beziehungen zur populären Musik und Kultur und durch ihre Gestik und Haltung.

Aber die Veränderung, welche die Exilierten an sich schmerzhaft erleben müssen, sind nur der eine Teil der Erfahrungen, welche der Film gestattet; der andere sind jene Erfahrungen, die wir mit uns machen, vermittelt über den Blick, den diese Menschen mit ihren selbstverständlichen Ansprüchen, Wünschen und Utopien auf uns werfen. Ebensosehr ist "Aus der Ferne sehe ich dieses Land" ein Film über die Bundesrepublik.

Zu Recht hat man deshalb diesen Doppelblick, diese Seitenverkehrung der Wahrnehmung, diese aufklärende, erhellende Befremdlichkeit gerühmt, in welche Ziewer, sein Kameramann Gerard Vandenberg und die überwiegend chilenischen Schauspieler dieses Land, seine Menschen (linke wie "rechte", politische wie unpolitische) getaucht haben. Und zwar – und darin ist in der Tat eine Erweiterung der ästhetischen Möglichkeiten Ziewers, wenn auch kein substantieller Bruch mit seiner früheren Ästhetik festzustellen – durch größeres Raffinement nicht-verbaler Mittel (Perspektive, Kamerabewegung, Musik, Sprache). Dabei sind ihm einige sehr geschlossene, dichte Sequenzen gelungen (im Schallplattenladen, auf dem Chilekomitee; die "Anhörung", Anfang und Ende des Films), die den Anschein erwecken, der Regisseur habe entscheidend mit seiner früheren Ästhetik gebrochen.

Den Eindruck habe ich doch nicht, Ziewer ist seiner Realismus-Vorstellung treu geblieben. Danach soll eine kalkulierte Häufung von Widersprüchen und Gegensätzen in den Personen, in ihren Beziehungen zu anderen Personen und zur äußeren Realität der Gefahr einer eindimensionalen Monumentalität und reibungslosen Konfliktlösung bei der Gestaltung "des Typischen der gesellschaftlichen Realität" (Lukacs) entgegenwirken. Dieses Verbundnetz von unterschiedlich nuancierten Widersprüchen hatte früher eine vollständige gedankliche Funktionalisierung aller Momente seiner Filme zur Folge ("Freiheit" durch multikausale Determinanten)

Wenn nun der Eindruck entstanden ist, "Aus der Ferne sehe ich dieses Land" habe davon Abstand genommen, so täuscht Ziewers verfeinerter, erfahrenerer Umgang mit der filmischen Grammatik psychologischer Darstellung, emotionaler Akzentuierung über die ihr gleichgebliebene zugrunde liegende Struktur hinweg. Gleichwohl ist der Film "aus dem Kopf" gemacht, aus Begriffen und Gedanken – nur daß diese perfekter umgesetzt sind in Bilder und Töne, die "aus dem Bauch" zu kommen scheinen.

Darin liegt ein ästhetischer Widerspruch, der nicht bloß ein ästhetischer ist. Für Ziewers weitere Entwicklung – er projektiert einen Film über den Bauernkrieg – ist das von entscheidender Bedeutung. Ich frage mich, ob ein Autor, dessen poetische Produktion so offenkundig "aus dem Kopf" kommt (nichts lieber als das, damit wir uns recht verstehen), unterm Druck des allgemeinen Geredes vom "Erzählkino", den "Schauwerten", der "Sinnlichkeiten" auf Dauer in die Irre geht, wenn er den Kopf sozusagen in den Bauch versetzt und einer Ästhetik der Camouflage frönt, statt sie auch dem Kopf entspringen zu lassen. Denn das ist ein Gerücht der Kopflosen, daß Gedanke und Begriff nicht poetisch seien. Das Kino Godards, Kluges, Bressons hat den Gegenbeweis geliefert.

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