Der Stoff, aus dem Gewalt entsteht
Katharina Dockhorn, Filmecho/Filmwoche, Nr. 47, 23.11.2002
Winfried Bonengel lässt das Thema Rechtsradikalismus nicht los. Anfang der 90er Jahre drehte der 42-Jährige mehrere Dokumentationen zu diesem Thema, darunter "Beruf: Neonazi". Im gleichen Jahr erschien das gemeinsam mit dem prominenten Aussteiger Ingo Hasselbach verfasste Buch "Die Abrechnung". In seinem Spielfilmdebüt spürt der seit 17 Jahren in Paris lebende Bonengel der Frage nach, wie Jugendliche wie Hasselbach der rechten Ideologie aufsaßen.
Filmecho: Wie hat Sie das Thema Neofaschismus gepackt?
Winfried Bonengel: 1990 kam ich zufällig an einem Aufmarsch vorbei. Bis zu diesem Moment hatte ich noch nie Neonazis gesehen. Ich wusste gar nicht, dass es so was gibt, weil ich mich nicht darum gekümmert habe. Als meine Neugier geweckt war und Ingo Hasselbach mir die Lebensgeschichte von sich und seinem Freund erzählt hatte, war ich an der Person interessiert. Da hatte ich damals schon das Gefühl, dass man einen Spielfilm daraus machen konnte.
Filmecho: Was war denn das Besondere an seiner Persönlichkeit?
Bonengel: Er entsprach nicht dem Klischee von Nazis. Mir war schleierhaft, wie jemand, der so sensibel ist und so viel Humor besitzt, da hineingerät. Ich habe gemerkt, dass es eigentlich nur eine emotionale Angelegenheit ist. Die Statements, die er von sich gab, stimmen nicht mit dem Menschen überein. Unsere Gespräche waren wahrscheinlich auch der Anfang für seinen Ausstieg. Alleine meine Gegenwart hat ihn auf eine völlig unpolitische Art und Weise zum Nachdenken gebracht. Obwohl ich das nie mit der Absicht gemacht habe, ich hole ihn jetzt aus der Szene heraus. Ich wollte in erster Linie Filme machen.
Filmecho: 80 Prozent der Mitglieder in der Anfang der 90er Jahre existierenden Neonaziszene in den Neuen Ländern wurden erst in DDR-Gefängnissen ideologisiert, schätzen Soziologen. Welches waren bei Hasselbach die auslösenden Momente?
Bonengel: Ich glaube, dass die meisten Jugendlichen erst im Knast kriminalisiert wurden. Es war keine Seltenheit, dass Leute, die nur ein bisschen rebellisch waren, mit Schwerverbrechern und Nazis zusammengekommen sind. Wenn man in jungen Jahren solch krasse Erfahrungen macht, wirkt das nach. Außerdem treffen Vergewaltigungen Männer genauso schlimm wie Frauen. Der Schmerz hinterlässt eine Narbe, die immer wieder aufreißt. Daher denke ich, dass die Wurzel für rechtes Denken Erniedrigung, Demütigung und Hass sind. Und das beste Ventil war, diese Gefühle bei Hooligans oder bei Nazis loszuwerden.
Filmecho: Wobei das Schicksal von Heiko und seinem Freund Tommy auch zeigt, dass die Erfahrungen bei unterschiedlichen Charakteren auch ganz unterschiedliche Wirkungen haben können.
Bonengel: Tommy ist eigentlich ein Gesetzloser. Die können kaum richtige Nazis werden. Sie hingen bei ihnen rum, wollten Spaß und wenn es ernst wurde, waren sie sehr schnell weg. Die hatten keine Lust, auf einen Befehl zu hören. Heiko dagegen hatte zunächst ein Problem mit Hierarchien. Er ist ganz einfach ein anarchischer Typ, der jegliche Ordnung und Einordnung ablehnt.
Filmecho: Zwischen der ersten Filmidee und dem Dreh liegen knappe zehn Jahre. Sind die deutschen Produzenten vor dem Stoff zurückgeschreckt?
Bonengel: In Amerika hätte ich das Buch verkaufen können. Doch das wollte ich nicht. In Deutschland war es sehr schwierig. Es war erst dem Engagement von Laurens Sträub zu verdanken, dass der Film zustande gekommen ist. Alle Produzenten sagten mir zuvor, das ist ein hochinteressantes, spannendes Buch. Aber keiner wollte es machen. Einige behaupteten, Filme über Nazis will keiner sehen. Ein bekannter Produzent hat mir gesagt, er findet das Buch super, aber er hat keine Lust, zwei Jahre mit einem solchen Stoff zu verbringen. Andere wollten dann Til Schweiger oder Franka Potente, also bekannte Namen, was nicht ging.
Filmecho: War Ingo Hasselbach als Korrektiv neben Ihnen?
Bonengel: "Die Abrechnung" war für mich eine Art Materialsammlung und das musste man dann auf ein paar Personen reduzieren. Da gab es eher das Problem, dass man zu viele Anekdoten hat, die man gut findet. Ab und zu habe ich Ingo was vom Drehbuch zu lesen gegeben und dann sind wir immer wieder auf andere Sachen gekommen. Je näher der Dreh gerückt ist, umso intensiver wurde auch der Austausch. Beim Dreh war er immer dabei, um kurzfristig Dialoge und Situationen zu ändern. Vor allem im Gefängnis war es sehr wichtig, dass er dabei war, um die Atmosphäre wiederzugeben. Wir hatten Schließer aus DDR-Gefängnissen engagiert, um exakt das damalige Gefühl zu erzeugen.