Das Leben ist eine Baustelle
Das Leben ist eine Baustelle
Rudolf Worschech, epd Film, Nr. 3, März 1997
Hinausgehen auf die Straße und das Leben filmen – auf kaum einen anderen deutschen Film der letzten Jahre hat dieses Credo der Nouvelle Vague so gut gepaßt wie auf Wolfgang Beckers neuesten Film. "Das Leben ist eine Baustelle" beginnt auf der Straße und endet in einer Straßenbahn, und dazwischen wird die Geschichte von Zufällen und zufälligen Begegnungen angetrieben. Nicht von den "großen", kinogerechten Zufällen, sondern von den kleinen, ganz alltäglichen, die aber große Wirkungen haben können. Schon in die ersten Sequenzen greift ein solcher Zufall ein. Ein junger Mann, Jan, in Cordhose, Jeansjacke, mit Umhängetasche, läuft durch ein Altbau-Viertel, Sirenen heulen, Polizisten und Demonstranten hetzen durch die Straßen, es scheint auch Plünderungen gegeben zu haben. Plötzlich taucht eine junge Frau auf, verfolgt von zwei Männern. Jan setzt die beiden erstmal außer Gefecht, und eine Flucht durch Straßen, Hinterhöfe und heruntergekommene Treppenhäuser beginnt. Ein kleiner Junge im Superman-Kostüm hilft ihnen und versteckt sie in der Wohnung seiner Eltern, aber trotzdem wird Jan von der Polizei gefaßt – natürlich waren die Männer Zivilbeamte. Was dazu führt, daß er nicht nur die Nacht im Polizeigewahrsam verbringen muß. sondern auch eine hohe Geldstrafe aufgebrummt bekommt, unentschuldigt bei der Arbeit fehlt und seinen Job verliert.
Jan wirkt so, als hätte er den rechten Platz im Leben noch nicht gefunden. Er ist Schlachter, aber offensichtlich nicht festangestellt, lebt bei seiner Schwester, die auf häuslichen Parties Dessous vorführt, und ein Großteil seiner Habe scheint sich in der Umhängetasche zu befinden, mit der er immer durch die Gegend läuft. Sein Gang habe etwas Machohaftes, wird Vera einmal zu ihm sagen, und tatsächlich stapft er trotzig durch die Straßen des winterkalten Berlin, so, als würde dieser Gang seinem Leben Festigkeit verleihen. Ein Fixpunkt in seinem Leben ist Jenni, die kleine Tochter seiner Schwester, um die er sich kümmert und für die er eine tiefe Sympathie hegt. Jan und Jennifer, so hießen auch die Liebenden in Ingeborg Bachmanns Hörspiel "Der gute Gott von Manhattan".
Jan Nebel läßt sich treiben vom Leben, und das Leben treibt ihn. Als er sein letztes Geld vom Schlachthof abholt, rettet ihn Buddy davor, beim Diebstahl von Filets erwischt zu werden. Buddy ist ein Fan der Musik von Buddy Holly. und beide treffen auf die Griechin Kristina, die nach ihrem Bruder sucht. Und ganz zufällig trifft Jan Vera wieder, die in einem Supermarkt als Nikolaus verkleidet Weihnachtslieder singt. Die beiden verabreden sich, und eine verrückte Liebesgeschichte beginnt, bei der sie das Büffet einer Ärzteversammlung plündern und die Rechnung eines Nobel-Hotels prellen. Es ist eine Liebe zwischen verschiedenen Schichten und Bildungsniveaus, zwischen einem Schlachter und einer Musikerin, die an Performances mitwirkt. Mit Jürgen Vogel und Christiane Paul hat Wolfgang Becker auch die idealen Darsteller gefunden, der eine physisch, aber doch fragil, die andere rätselhaft und erst einmal unverbindlich. Denn so wie Vera am Anfang quasi aus dem Nichts gekommen war, so verschwindet sie auch immer wieder. Vogel und Paul gelingen eindringliche und doch locker gespielte Szenen, die ihresgleichen suchen im deutschen Komödien-Kino. Einmal besucht Jan Vera bei einer ihrer Performances, und nach dem Auftritt sitzen alle noch um einen Tisch, getaucht in ein fast magisches Kerzenlicht. Ob er denn etwas singen könne, wird er gefragt, und er traut sich nicht recht und entlockt dann den Gläsern eine Melodie.
Das Faszinierende an dem dritten Film von Wolfgang Becker (nach "Schmetterlinge", 1988, und "Kinderspiele", 1993) ist, daß alles so klar an der Oberfläche zu liegen scheint, aber doch jede Person ihr Geheimnis hat. Insbesondere natürlich Vera, die Jan Kassettenrekorder – Nachrichten hinterläßt und sich morgens aus dem Bett stiehlt. Aber auch Jan, der möglicherweise HIV-positiv ist. Becker zwingt den Zuschauer, die Welt mit den Augen seiner Figuren zu sehen: Es gibt nur wenige Momente in diesem Film, in denen der Zuschauer mehr weiß als die Figuren. Becker nutzt sie zur Irritation des Zuschauers, etwa wenn Vera in einer Klinik sitzt, und man nicht erfährt, wieso. Becker geht sogar so weit, daß er nicht immer das verrät, was die beiden zu besprechen haben. Einmal, als Jan Vera nachspioniert und entdeckt, daß sie mit einem anderen Mann zusammenlebt, stellt er sie zur Rede, und beide entschließen sich, ihre Geheimnisse auszutauschen, um Vertrauen zu gewinnen. Aber dann blendet Becker ab und läßt seine Figuren mit sich allein.
"Das Leben ist eine Baustelle" spielt in Berlin, einer Stadt, die heute selbst eine große Baustelle ist. Aber Becker beutet Berlin nicht so aus wie z.B. Caroline Link im zweiten Teil von "Jenseits der Stille". Es gibt keine Postkartenansichten der Berliner In-Viertel und Szenentreffpunkte, manchmal kommt der Ostberliner Fernsehturm ins Bild, eine Brücke, eine alte Fabrik, und ansonsten spielt alles in tristen und grauen Altbaustraßen. Seit Solinger Rudi von Dietmar Klein hat kein anderer deutscher Film das Milieu dieser Straßen, ihrer Wohnungen und ihrer Bewohner so aufmerksam und authentisch eingefangen. Das Spektrum reicht von einer grandiosen Prolo-Karikatur (Jans Schager, dargestellt von Armin Rohde) bis zu einem traurig-grotesken Tableau der Einsamkeit, als Jan seinen Vater tot vor dem Fernseher und mit dem Kopf in der Pizza findet.
Mit "Das Leben ist eine Baustelle" ist Wolfgang Becker das große Kunststück gelungen, einen Film über so ganz alltägliche Dinge wie Geld, den Tod, Jobs, Wohnungssuche und die Liebe zu drehen und seinen Figuren doch einen Schimmer jenes bigger than life zu verleihen, das eine Geschichte im Kino braucht. Es sind Momentaufnahmen des Lebens, die sich bei einigen Figuren zu einem Charakter verdichten, bei anderen nicht. Wollte man die Erzählweise des Films und die Haltung zu seinen Figuren beschreiben, so könnte man sie am ehesten "offen" nennen. Wir sehen zwei Stunden lang Menschen zu und wissen doch nicht alles über sie. und auch nicht, was aus ihnen werden wird. Wie bei einer Baustelle, bei der man auch nur ahnen kann, wie das Gebäude einmal aussehen wird.