Das letzte Loch
"Zum Totenberg der selbstgerechten Deutschen will ich nicht gehören"
Wolfram Schütte, Frankfurter Rundschau 24.12.1981
Man pfeift auf ihm oder man verkriecht sich in ihm: letzte Laute (hoch, dünn, fragil), letzte Zuflucht (tief, dunkel, versteckt), verkettet von Angst, besiegelt von nahender Ermattung kurz vor dem Einverständnis, daß komme, was da wolle und nicht änderbar sei.
"Das letzte Loch", Achternbuschs Endspiel, beginnt auf einem bayrischen Dachboden, über einer Wirtschaft, und es endet am Vulkan Stromboli. Italien war einmal ein Name für Achtenbuschs Utopie, Ortswechsel in ein anderes Leben; die Bauernhäuser, Wohnzimmer, Kneipen im Bayrischen: Zuhause als Heimat und Zwischenzustand, Enge eines in Ansprüchen und Bedrängnissen verharrenden Lebens. In "Servus Bayern" war der Dichter Herbert dann nach Grönland geflüchtet – in eine eisige Poesie, und er hatte sich dort, unter heulenden Schlittenhunden, zu Tode gesoffen; im "Jungen Mönch" ist Bayern nach einer Katastrophe, was Achternbusch in Island fand: dunkelbraunes oder grünes Gelände, von Geysiren verschwärt, blubberndes Beben. Von dort noch will er nach Italien fliehen, nur weiß er nicht: das gibt es gar nicht mehr. Stromboli ist eine der Liparischen Inseln, mit einem tätigen Vulkan; nicht weit davon liegt der Ätna in Sizilien, in ihn stürzte sich Empedokle. Achternbuschs Held verschwindet hoppelnd und hüpfend über erkaltete Lava aus dem Bild: er geht in seinen Vulkan.
Auf dem Dachboden, im Halbdunkel, sitzt der Nil, ehemals ein fruchtbarer Strom, jetzt vertrocknet. Zum ersten Mal heißt Achternbuschs Held – er selbst spielt ihn wie immer zuvor – nicht Herbert. Nil – ein Name mit einem Schwemmland von Assoziationen, kein Wort bloß, sondern eine Metapher. Im "Haus am Nil", seinem jüngsten Buch, in dem das Drehbuch zum "Letzten Loch" abgedruckt ist, heißt es an einer Stelle, es sei ihm eingefallen, daß Nil lateinisch auch eine Abkürzung für nihil bedeute, für "nichts", Nichts. Der Nihil: ein Nichts, das einmal, ein Mensch war.
Wie der Nil so dasitzt, in sich versunken, sein Gesicht im Schatten, in einem grauen, hell-bleichen Licht –: da bespricht ihn Susn (buchstäblich: sie bespricht ihn mit ihrer Liebe, ihrem Begehren), sie ist eine Bedienung, es waren immer Bedienungen, die er geliebt hatte, und sie hießen alle Susn. Ein Dialog beginnt: "Der Nil: Du Susn, der Nil hat dir auch etwas mitgebracht. Schau! – Susn begutachtet eine kleine Gießkanne und bedankt sich mit Freude und einem Kuß. Der Nil: Der Kuß allein hätt´ auch gelangt, wozu die Freude? Susn: Ohne Freude kann ich dir keinen Kuß geben. Und von meiner Freude allein hast du nichts. Nur vom Kuß hast du auch etwas. Der Nil: Ja was Nasses".
So beginnt keine Liebe, so endet sie, eine zänkische Zweisamkeit. Wiewohl dieser Nil ihr überlegen ist, suchen sie doch beide nach Worten, mit denen sie noch sprechen können, aber es sind erstarrte und verzerrte Worte, Wrackstücke, die zwischen ihnen treiben, nach denen sie greifen. "Was ist das für ein Zusammenhang" – fragt der Nil, Zusammenhang zwischen "Fingernägel" und "Brieföffner"; den hat er in der Hand, er putzt sich mit ihm die Fingernägel, er wird mit ihm die Susn erstechen. Woyzeck sprach derart verwirrt, und die Dinge gewannen Gewalt über ihn. Zusammenhang besteht da schon im verirrten Sprechen, das den ganzen Film hin fortschwärt; aber wie die Szenen (was wir sehen) und die Sprache zusammenhängen, das spottet jeder vernünftigen Beschreibung und verhöhnt jegliche Realität: wer in diesen Traum nicht einwandert (er ist in Schwarzweiß – wie Wim Wenders" Nachtstück "Im Lauf der Zeit", auch das eine vergebliche Reise in die Kindheit) – wer diesen Traum nicht mitträumt, wird ihn als Hirngespinst verachten müssen.
In der Sprache, ihren Banalitäten und Kalauern, im Sprechen: dort liegt der Einstieg zu den Bildern. Es sind Treppen im Verfall, die in den Film hinabführen, zum Straucheln; es sind Fetzen von Sinn, scheinbar vernäht mit Unsinn – als sei der Text wie seine Szenen geschrieben in Trance, automatisch, hingegeben einer drängenden Bewegung: – das Verdrängte webt diesen Alptraum zusammen.
Warum ihm das Leben schal und Susns Kuß nur noch "was Nasses" geworden ist, das sagt ihr der herumstreunende Fliegenfänger, bevor er sie umbringt: "Weißt du, was für mich ein Kuß ist? Daß, ein paar Juden in Auschwitz gezeichnet haben, das ist für mich ein Kuß."
Merkwürdiger Satz, befremdlicher Gedanke, der da auf einem bayrischen Dachboden fällt und das mißgelaunte Geraunze, das quälerische Wortverdrehen, die Hilflosigkeiten und Mühseligkeiten im überdrüssigen Umgang miteinander grell auseinanderreißt: wie aus dem Brüten herausgeschleudert. Dieses Bild, dieser Gedanke – daß an jenem Ort, dem absoluten Kältepol unserer Kultur (und deren Zurücknahme) Menschen noch gezeichnet haben, als gäbe es noch eine Hoffnung, als seien sie nicht dort, als besitze die Kunst noch einen Sinn: – das lastet auf ihm, das hat ihn (und seine Liebe) aufgezehrt, das lenkt diesen ziellosen Wanderer, diesen Privatdetektiv durch die Gegend, die Kneipen, die Pissoirs, läßt ihn sich , wie ein Maulwurf in einem Hügel verkriechen und wie ein Hase davonhüpfen.
Sinn – gewiß besitzt die Kunst noch einen (wie dieser Film), und wäre es nur der, sich und ihn zu widerrufen: "Jede Form ist abnorm", heißt es im "Haus am Nil", am Beginn des Drehbuchs zum "Letzten Loch". Für den Dürrenmatt der "Physiker" kam "uns nur noch die Komödie bei"; für den Achternbusch des "Letzten Lochs" nur noch die alpträumende Groteske. Sie entspricht einem welthistorischen Skandal, der gar nicht zu bewältigen ist und der doch durch die "Holocaust"-Serie (auf die das "Letzte Loch" antwortet) als "realistisches" Melodrama konsumierbar wurde, und was konsumierbar geworden ist, das ist verdaut worden. So droht, was der Bruch in der menschlichen Geschichte war, als fortdauernde Erinnerung (für die es kein Bild und keinen Begriff gibt, die ihr entsprechen könnten) im Gedächtnis gelöscht und planiert zu werden. Nur das Blasphemische verbindet sich noch mit dem in Liebe, Zorn und Trauer, wofür Religion einmal der Stachel im Fleisch der erniedrigten, beleidigten, seufzenden Kreatur war. Und als "blasphemisch", als "abnorm" und monströs mag man schon empfinden, womit der ausgetrocknete Nil seinen einzigen Besitz – sechs Millionen ermordeter Juden – sich abzuwirtschaften versucht: durch vier halbe Bier in vier Wirtschaften am Tag, und als das nichts mehr hilft: durch ein wahnwitziges Rechenexempel, das ein Arzt mit Schnaps anstellt. "Auf Schnaps können Sie vergessen", meint der Arzt, aber es wären 300000 Liter nötig, das zu erreichen. Welche Menge an Dumpfheit, an tranigem Rausch, an stinkendem Dunst – es bleibt einem der Atem in den Lungen stecken, das Zwerchfell vereist in einem Starrkrampf; aber was Achternbusch in dieser Szene (mit Wolfgang Ebert als Arzt, der da monströses Vergessen kassenärztlich behandelt), was er in diesen Momenten ungeschützt gewagt hat, hält unbetäubt, schneidend, schmerzend die Qual aus: – banal leben müssen angesichts dieses Totenbergs, dieser Schuld.
Die verdrängte Erinnerung, die auf der Unterseite der Wörter fortpelzt – wie etwa in dem assoziativen Monolog eines Polizisten, der von seiner Schulzeit erzählt, von Fremdwörtern und, ohne zu wissen wie, dann von Juden – und welche dieses Granteln, dieses Kalauern zersetzt: das ist das eine Thema von Achternbuschs "Letztem Loch"; das andere: die Liebe, die Sehnsucht, erweckt von der ersten Susn und erhalten für die letzte, die doch einmal am morgen der Kindheit und Jugend war und die er nie vergessen konnte, nie vergessen hat: "Marmelade habe ich nur aus Sympathie für Dich gegessen. Ohne Hoffnung auf Dich hätte ich keine Konservenbüchse aufgemacht. Selbst im Kehricht sah ich nach mit der Schuhspitze und in der Trambahnschienenritze. Deswegen bin ich doch Privatdetektiv geworden, weil ich Dich überall und in allem suchte. Unter dem Vorwand der Unzucht und der Untreue, die zu erkunden mir irgend jemand den Auftrag gegeben hat, schnüffelte ich in den vom Krieg leider völlig verschonten oder den nach dem Krieg unsinnigerweise gebauten Häusern herum, Dich vermutend hinter einer jeden Türe. In der 30jährigen Brutalität des Nachkriegsdeutschlands habe ich Dich gesucht, Dich, die Zärtlichkeit, die Einsicht, die Mühelosigkeit, die Anspruchslosigkeit und den Stolz, dieses Leben| mit Würde zu überstehen."
Aber wenn diese Worte gesprochen werden, ganz am Ende auf Stromboli, da hat er in seiner letzten Susn seine erste wiedergefunden; jedoch sie ist es nicht mehr; eine Stillgestellte, niedergemacht, ausgehöhlt, eine Ruine. Der Nil in seinen Turnschuhen, seinem Mantel, mit seiner Plastiktüte und zwei Tennisschlägern (mit denen er Totenköpfe ausgräbt) – dieser traurigste Clown nach Chaplin ist nun stumm geworden. Seinen Abschiedsbrief an Susn liest Susn vor – liest sie ihn aus diesem kleinen Amulett ab oder kommt die Sprache aus ihr? Hier, in diesem großen Monolog, der zurecht schon mit Hölderlins Hyperion-Schelte der Deutschen verglichen wurde, hier verschmelzen in einem langen Augenblick schwärzester Trauer beide Themen des Films: "Susn, ich mußte herauskriegen, was in den Deutschen drin ist, und ich sage es Dir: Mord. Fleißigster Mord. Aber dieser Mord hat sie zum berühmtesten Volk der Menschheit gemacht. Da werden Beethoven und Mozart schon von den Vögeln gepfiffen und ihre Namen längst vergessen sein, da wird niemand mehr den französischen Rotwein kennen, geschweige das französische Volk, der Name Hitchcock wird nicht mehr für Gruselfilme stehen, sondern für eine besondere Holzleiste – alles was jetzt noch zählt und wichtig ist, wird längst vergessen sein, aber nicht vergessen das Mördervolk der Deutschen. Leider bin ich für einen Juden zu dumm, aber ich zähle mich nicht zu den Deutschen. Es wäre schön, Dich noch einmal zu sehen, Susn. Du magst ein wenig müder sein, aber ich liebe Dich um so mehr. Vor jedem Mittag esse ich schnell eine Brezel, schnell verschlungen, weil eine Brezel die gleiche Farbe wie Dein Haar hat. Dein brezelfarbenes Haar, leb wohl! Ich begehe Selbstmord, denn als Selbstmörder gehöre ich zum Totenberg der Opfer. Zum Totenberg der selbstgerechten Deutschen will ich nicht gehören. Leb wohl..."
Es ist die Sprache, die wie schon immer bei Achternbusch auch hier wieder über die Bilder hinausschießt, sich nicht von Erzähldramaturgie, geschlossener Form integrieren läßt, nicht an Personen haftet, sie nicht definiert, der Autor spricht immer auch in ihr mit. Aber wie noch nie zuvor, scheint mir, hat er nun im "Letzten Loch" der literarischen Suada Bilder und Sequenzen entgegengestellt, hat er mit Musiken als poetischen Farben gearbeitet, welche dem Film einen ganz eigenen, gedämpften Ton des Vergehens, des Schwindens, des Ernstes ja: und einer großen, ergreifenden Zärtlichkeit geben. Jörg Schmidt-Reitwein (Kamera) hat das in seinem ersten Schwarzweißfilm mit dokumentarischer Strenge erreicht, die zu einem opalisierenden Schimmern verhilft, das sich einem einsenkt, man weiß nicht wie. "Sagen kann man viel, sagen kann man sogar alles, aber verstehen, wer kann das verstehen?! Verstehst es Du? Du verstehst es vielleicht, und ich versteh es vielleicht, aber die anderen, ob die das verstehen" (im "Letzten Loch"). Ja: "verstehen" – diesen Film? Hieße ihn verstehen, ihn wie eine Allegorie zu entschlüsseln? Aber ist er denn eine? Ist er – mit allen seinen bewußten, deutlichen Brüchen, Verunsicherungen, seinen Sperrigkeiten – nicht viel mehr: ein surrealer Traum? Und hieße ihn verstehen, ihn nachzuträumen? Damit "fertig werden" kann man kaum, wenn man sich auf ihn einläßt. Und immer verharrt man dann an einem Beginn. Ich bin nie darüber hinausgekommen. Das soll nun jetzt am Ende stehn.