Sehen beim Hören
Jörg Gerle, film-dienst / Rheinischer Merkur Spezial, Nummer 6, 2005 (erschienen als Sonderheft zur Berlinale 2005)
An Bombast und sinfonische Größe denkt Martin Todsharow als Letztes, wenn er musikalische Entsprechungen für Bilder sucht. Für ihn ist es ein Instrument, ein absurder Klang-Cluster, eine Cellophrase, vielleicht auch nur ein einziger Ton, durch den eine Einstellung, eine Szene oder ein ganzer Film zum Leben erweckt wird. Ist eine Komposition des 57-jährigen Berliners im Spiel, hört man plötzlich beim Sehen. Kaum ein anderer Musiker im Filmgeschäft – Hollywood eingeschlossen – schafft es so nachdrücklich, Bilder zum Klingen zu bringen.
Elf "seiner" Filme sind seit 1997 ins Kino gekommen; unter ihnen war kein Blockbuster, obwohl Robert Schwentkes morbider Psychothriller "Tattoo" (2000) durchaus breitere Publikumsschichten erreichte. Vor allem Oskar Roehler hat in Todsharow einen kongenialen Emotionskatalysator gefunden, dessen Filme "Die Unberührbare", "Suck My Dick", "Der alte Affe Angst", "Agnes und seine Brüder" Todsharow vertonte. Hier ist ein Musiker am Werk, der seine Bestimmung gefunden hat.
"Ich wollte schon immer Filmmusik machen. Ich habe zwar Jazzklavier und klassische Komposition studiert, aber im ersten Semester zumindest schon Tanztheatermusik geschrieben. Leben konnte man davon kaum, wohl aber von den Aufträgen aus der Werbebranche. Hier wurde man angemessen bezahlt, wenn auch extrem unter Druck gesetzt. Diese Jobs waren eine gute Schule, weil man lernt, unter Druck zu arbeiten und zudem jede Stilistik zu bedienen; aber es ist ganz und gar nicht gut für Körper und Geist."
Todsharow macht das Glück für sein erstes Filmengagement verantwortlich. Die eigenen Fähigkeiten kommen erst später ins Spiel. "Vorausgesetzt, man stellt sich nicht so dumm an, hat man nach dem ersten Job zumindest zwei potenzielle neue Auftraggeber: den Regisseur und den Produzenten des ersten Films. Im Idealfall ist das der Beginn einer Kettenreaktion. Man muss allerdings aufpassen, dass man nicht die falschen Wege beschreitet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich jemals zu "Die Unberührbare" gekommen wäre, wenn ich als Komponist der Lindenstraße bekannt geworden wäre."
Oskar Roehlers meisterlicher Film über den Niedergang der ostdeutschen Schriftstellerin Gisela Eisner wurde für Todsharow zum Glücksfall. Die musikalische Instrumentierung dieser verstörenden Pathologie einer psychischen Zersetzung ist beschränkt und damit umso wirkungsvoller: Cello, Klarinette, Klavier. Deren minimalistische, mit dezenter Elektronik unterstützte Einsätze und Interaktionen fokussieren – im Gegensatz zur sonst üblichen orchestralen Aufbauschmusik – die Aufmerksamkeit auf den einzelnen Ton als Stimmungsträger. Die Musik wirbt zu keiner Zeit für die eigene Melodie, sondern stellt sich ganz, in den Dienst der kühlen schwarzweißen Bilder des Kameramannes Hagen Bogdanski. "Das war meine Visitenkarte für alle weiteren Filme, die in Richtung Drama und Suspense gingen. Der Film war sicherlich keine Visitenkarte für Komödien. Auch dafür bin ich dankbar."
Fürs leichte Fach ist Todsharow schlicht weg zu kreativ. Zwar findet er in "Der alte Affe Angst" oder "Agnes und seine Brüder" immer wieder zu seinen klassischen Wurzeln zurück, doch sein hemmungsloser Experimentierwillen macht ihn auf hohem Niveau unberechenbar. "Man muss sich immer bemühen, auszubrennen. Es ist zwar immer auch eine Chance, wenn man für ein bestimmtes Genre bekannt wird. Doch fatal wäre es, sich auszuruhen und keine neuen Sachen mehr auszuprobieren. Vor "Die Unberührbare" habe ich viel Fernsehen gemacht, mit schweren Beats und orchestralen Arrangements. Damals war das etwas Neues. Alle wollten so etwas plötzlich in ihren Filmen haben. Doch Moden sind bald überholt. Ich wollte deshalb von den schnell etablierten Beats wieder weg. So bin ich zuerst zu meinen Wurzeln zurückgekehrt und habe wieder begonnen, klassisch kammermusikalisch zu komponieren.
Die Schwere ist dabei geblieben. Kann Todsharow überhaupt lustig sein? "Komödie, gerade die deutsche Komödie, ist wahrlich nicht mein Fall. Trotzdem gab es eine, nämlich Roehlers "Suck my Dick"": Experimentelle Club-Music mit einem unverhohlen narzisstischen Hang zur musikalischen Geschmacklosigkeit. "Da habe ich mich völlig ausgetobt! Beim ersten Arbeitstreffen mit Oskar hatte ich den Film noch intellektuell überhöht, als quasi französischen Kunstfilm interpretiert, der dann wieder Kammermusik benötigt hätte – so wie "Being John Malkovich", dem Carter Burwell auch eine todtraurige Musik verpasst hat. Doch Oskar hat mich auf den Boden geholt und derartige Interpretationen verboten. Ich sollte einfach "drauf gehen" und spielen. So ist ein Konzept aus 1960er-Jahre-Movie-Themes von "Batman" bis zu "Stahlnetz" meets Kraftwerk herausgekommen. Das war einfach ein riesiger Spaß."
Todsharow bekennt sich zu seinen Vorbildern, doch er plagiiert nicht, sondern orientiert sich lediglich am Stil und versieht ihn mit seiner Handschrift. "Jerry Goldsmith ist sicherlich ein großer Filmmusiker, auch, weil er unglaublich viel experimentiert hat. Seine Arbeit zu "Alien" ist sicherlich exemplarisch. Aber auch neuere Komponisten wie Mychael Danna, der in Ang Lees "Der Eissturm" mit. afrikanischen Instrumenten, die überhaupt nicht in die Situation und Zeit passten, das Leben amerikanischer Spießer vertonte. Selbst Howard Shore zählt dazu, der Musiken für David Cronenberg geschrieben hat, aber erst durch "Herr der Ringe" berühmt geworden ist. Eigentlich ist Shore kein Mann für große orchestrale Themen. So sehe ich mich auch. Ich bin nicht der Mann für große Hollywood-Sinfonik. Wenn jetzt jemand kommen und sagen würde, wir haben hier ein Konzept im Stil von Hans Zimmer, dann würde ich – bei allem Respekt – dankend ablehnen."
Ist Hollywood tatsächlich kein Thema? Immerhin hat Martin Todsharow mit seiner Musik zu "Tattoo" Shores "Sieben" oder Angelo Badalamentis "Arlington Road" assoziiert und ist in Los Angeles nachhaltig in Erinnerung geblieben. "Tattoo"-Regisseur Schwentke dreht zurzeit "Flightplan" mit Jodie Foster. Auch wenn es Martin Todsharow nicht mit aller Macht nach Hollywood zieht, weiß man nie, wozu alte Bekannte noch gut sein können.