Die Schlüssel
Die Schlüssel
Peter Ahrens (= Klaus Wischnewski), Weltbühne, Berlin/DDR, 19.3.1974
Dieser Film gehört zu den Versuchen, aus der Biederkeit einer nur logischen Dramaturgie herauszukommen zu realeren Erzählweisen. Den Titel darf man sicher auch übertragen verstehen. Hier geht"s nicht nur um den Zugang zu der Krakower Wohnung, deren Schlüssel ein freundliches polnisches Ehepaar zwei scheinbar sehr unbekümmerten Liebenden aus der DDR anvertraut. Hier geht"s vor allem um den Zugang zu einem Menschen, den man liebt, um den Zugang zum Nachbarland, das trotz Nähe immer noch fremd erscheint. Egon Günther und Helga Schütz (Drehbuch) teilen sich in den Erlebnissen des Paares Ric und Klaus selbst mit (Günther: "… dieses Sich-mitteilen-Wollen ist sicher die wichtigste Triebkraft fürs Schreiben, fürs Filmemachen auch"): Gedanken über das Zusammenleben, Entdeckungen in Polen und Sympathie für dieses Land. Sie tun es über das aufwendige und breite Wirkung beanspruchende Medium Film. Also wollen sie, daß dieses Abenteuer Krakow, das mit jenen Schlüsseln beginnt und mit Rics Tod unter einer Straßenbahn jäh endet, für möglichst viele Menschen aufschlußreich wird, sich als Schlüssel zu Unerschlossenem erweist. Ein schöner Gedanke: Film als Schlüssel zu Unbekanntem, zu wenig Beachtetem.
Vielleicht überlaste ich mit deutschem Tiefsinn Titel und Absicht dieses Films. Aber kleiner sollte man die Erwartung nicht ansetzen. Jedenfalls nicht bei einem Regisseur wie Günther, der bereits mit seinem ersten Film ("Lots Weib") zeigte, daß er wichtige Momente in unsere Filmproduktion einzubringen hat: eigene Beobachtungen und Gedanken, Polemik, Subjektivität und Formwillen. Freude am Spiel in der Kunst. In "Lots Weib" und "Der Dritte", zwei unserer nicht zahlreichen gültigen Gegenwartsfilme, in "Abschied" und "Junge Frau von 1914" als Selbstverständigung über Geschichte vereinigten sich diese Momente zu jener neuen Qualität, die man (ungenau) "Kunst-Wirklichkeit" nennen kann, die die "normale" Realität überscharf erfaßt, viele erreicht und alle angeht. In "Erziehung vor Verdun" gelang das weniger, in "Anlauf" kaum.
Den Film "Die Schlüssel" verließ ich vor einem Jahr (er entstand vor dem "Verdun"-Film) und jetzt mit einem zwiespältigen. Gefühl: Interesse und Sympathie mischten sich mit Ärger. Ich sprach mit zwei etwa Zwanzigjährigen, die beide beeindruckt waren, besonders von Rics Monolog, in dem sie überraschend und hart ihre Beziehung zu Klaus bilanziert und die individuellen Eigenheiten auf ihre sozialen Aspekte hin überprüft. Also stecken in dieser Geschichte wichtige Fragen. Werden sie aber durch die Methode, mit der der Film gemacht ist, erschlossen?
Eine junge Liebesbeziehung wird durch einen Zufalls-Tod zerstört gerade in dem Moment, da beiden Partnern die Probleme ihrer Beziehung bewußt werden. Während der fröhlich-aufgeschlossenen Entdeckung des Nachbarlandes ist unmerklich (zu unmerklich!) Rics Erkenntnis gewachsen. Plötzlich formuliert die Arbeiterin aus dem Glühlampenwerk ihr auf ihre Facharbeiterposition fixiertes (und beschränktes) Selbstbewußtsein gegen das dynamische, aber zugleich bornierte Leistungsdenken des Studenten. Wenig später fürchtet sie, er sei ihr deshalb davongelaufen (schöner, genauer Moment: "Ich bereue jedes Wort!""), sie rennt auf die Straße und gerät unter die Straßenbahn. Er aber war nur beim Nachbarn, wegen einer Zigarette. Anlaß des Todes – ein Mißverständnis. Dessen Ursache – ein Problem, das sich zum Konflikt verschärfen muß, den zwei Menschen lösen können im Zusammen-leben oder Auseinander-gehen. Es ist gerade ein Vorzug der "Schlüssel" wie anderer Geschichten der letzten Jahre, daß sie unzweideutig einer Welt entstammen, in der derartige Konflikte ihren gültigen, weil sozial notwendigen Ausdruck nicht in der tödlichen Kollision finden. (…)