Egoshooter
Ich bin, also filme ich
Sascha Westphal, Frankfurter Rundschau, 24.02.2005
Ein Leben ohne seine Videokamera kann sich der 19-jährige Jakob nicht mehr vorstellen. Als sein Bruder sie einmal zum Spaß versteckt, gerät Jakob in Panik. In dem Moment ist es so, als hätte er seine Brille verloren und wäre nun praktisch blind. Jakob hat sich so daran gewöhnt, die Welt durch das Auge der Kamera zu sehen, dass er seiner eigenen Wahrnehmung nicht mehr vertraut. Das Leben findet nur noch in seinen Abbildern statt, was sich nicht aufzeichnen lässt, hat für Jakob keine Bedeutung. Das Filmen ist zur Obsession geworden. Nichts darf dem Blick der Kamera verborgen bleiben, und so läuft sie selbst dann noch, wenn er sich im Badezimmer selbstbefriedigt.
Die Kinder von McLuhan und MTV
Wie einst die Daguerreotypien haben Home Movies und Amateurfilme die Art, sich zu erinnern, verändert. Die Möglichkeit, einen Moment in Gänze aufzuzeichnen, ist verlockend, birgt aber auch eine Gefahr: Der Prozess der Aufzeichnung schafft eine Distanz, die sich nie ganz überwinden lässt. Dass das Leben im Sucher einfach anders aussieht, war natürlich auch den Avantgarde- und Experimentalfilmern der 1950er und 60er Jahren bewusst, deren Film-Tagebücher immer auch die Bedeutung von Bildern innerhalb der Gesellschaft mit reflektierten. So beiläufig manche ihrer Filme wirken, sie bleiben Teil eines größeren ästhetischen und gedanklichen Projekts.
Der von Tom Schilling verkörperte Jakob wandelt in Christian Beckers und Oliver Schwabes "Egoshooter" zwar auf den Spuren dieser Filmemacher, aber im Gegensatz zu ihnen folgt er keinem reflexiven Konzept. Wenn er ziellos durch Köln driftet und dabei seine Kamera laufen lässt, dann ist das vor allem eine Art von Beschäftigungstherapie. Die Videokamera verbindet ihn mit anderen Menschen, ohne dass er sich direkt auf sie einlassen müsste. Insofern spielt es für ihn auch keine Rolle, ob er nun heimlich Fremde in der U-Bahn filmt, oder ob er seinen Bruder Kris (Lennie Burmeister) und dessen schwangere Freundin Karo (Lilia Lehner) beim Liebesspiel beobachtet.
Dass Jakobs Blick nie seine Unschuld verliert, macht seine Bilder faszinierend, verleiht ihnen aber auch etwas Irritierendes. Anders als er, der nicht über die Bedeutung seiner Aufzeichnungen nachdenkt und nicht versteht, warum sich Kris über den Eingriff in seine Intimsphäre aufregt, ist sich das Publikum der Transgressionen bewusst: Alles, was Schilling, der Jakobs Kamera selbst geführt hat, filmt, konfrontiert uns mit unserem eigenen Voyeurismus. Die Selbstverständlichkeit, mit der ein orientierungsloser 19-Jähriger in das Leben anderer eindringt, fällt auf uns zurück. Wie er sind wir die Kinder von Marshall McLuhan und MTV und leben in einer Welt, deren Realität von Fernsehbildern okkupiert ist.
Es gibt keine Geschichte und keine Entwicklung in "Egoshooter" , kaum etwas unterscheidet die subjektive Kamera von dem Blick der beiden Regisseure auf ihren Protagonisten. Wie Jakob treibt der Film vor sich hin. Schon das Pseudonym "Field Recordings", unter dem Becker und Schwabe in den Credits firmieren, weist auf den Charakter ihres Experiments hin. Jakobs Story ist Fiktion, die Situationen, in die er gerät, sind inszeniert, aber der Look ist der eines Videotagebuchs oder Home Movies. Weder Jakob noch die beiden Filmemacher glauben an eine Hierarchie der Ereignisse. Alles ist gleich bedeutend oder unbedeutend. Natürlich hat etwa die zufällige Begegnung zwischen Jakob und der Folk-Legende Nikki Sudden in einer U-Bahn-Unterführung einen surrealen, magischen Touch. Doch der ständige Fluss der Bilder reißt sie genauso mit sich fort wie alles andere.
"Egoshooter" nimmt uns mit auf eine Reise durch eine Gegenwart, die sich in erster Linie durch das definiert, was in ihr fehlt. So phantasiert Jakobs bester Freund, der Freestyle-Rapper Phillip, einmal von einer "wirklich guten Jugendbewegung, durchaus mit einer gewaltbereiten Masse, die noch dazu bereit ist, alles ein bisschen umzustürzen". Doch diese Masse gibt es nicht, und natürlich stellt sich darüber hinaus die Frage, wie dieses bisschen Umsturz überhaupt aussehen könnte.
Wie allen Figuren des Films fehlen auch Phillip die Kraft und die Ideen, die für eine Erneuerung ihrer Welt unerlässlich wären. Das einzige, was sich für sie bewegt, sind die Bilder des Fernsehens und der Tapes, die Jakob von seinem Stillstand macht. Die fiebrige Intensität, die von Schillings Spiel ausgeht, erwächst aus der inneren Leere seiner Figur: Jakob weiß nicht, was er vom Leben und von den Menschen will. So wie ihm ein Bewusstsein für seine Ängste, Konflikte und Wünsche fehlt, so hat Jakob auch kein Bewusstsein für die Bilder, die er aufzeichnet.
Ich filme, also bin ich
In David Holzman"s Diary , Jim McBrides 1967 entstandenem Meilenstein des frühen New-Hollywood-Kinos, führt ein junger Mann ein Filmtagebuch, um sich Klarheit über sich selbst und seine Umwelt zu verschaffen. Nach dem Motto "Ich filme, also bin ich" nimmt er seine 16-mm-Kamera überall mit hin, doch am Ende muss er erkennen, dass ihm seine Bilderobsession Schritt für Schritt sein Leben nimmt. Seither sind private Videotagebücher und vom Fernsehen ausgestrahlte Home Movies so selbstverständlich geworden, dass sich Jakob gar keine Gedanken mehr über Sinn oder Unsinn seines Handelns machen muss. Für ihn gilt einfach: "Ich bin, also filme ich."
© Sascha Westphal