Junge Leute in der Stadt
Junge Leute in der Stadt
Elke Schieber, Film und Fernsehen, Berlin/DDR, Nr. 12 1985
Ein junger Mann lungert vor einem großstädtischen Bahnhof herum, wo die Taxis eine Biege machen, um dann langsam in der Schlange nachzurücken, während ihre Chauffeure auf ein günstiges Geschäft hoffen. Die Kamera zeigt ganz nah, wie die Fahrzeuge an Emanuel vorbeigleiten. Die Fahrer beachten ihren arbeitslosen Kollegen kaum. Auf seine Frage, wenigstens eine Runde drehen zu dürfen, ein müdes Abwinken. Endlich läßt ihn einer ans Steuer, aber nur, damit das Auto nicht ohne Aufsicht ist, während der Fahrer im Laufschritt ein Pissoir aufsucht. Emanuel hat keine Chance heute. Verblüffend die über der Szene liegende Atmosphäre von Normalität.
Später, in einem Polizeibüro, wird einem Bürger in dunklem Anzug und schwarzer Melone bedeutet, wenn er den Polizistenmord so genau beobachten und den Täter erkennen konnte, wie er vorgäbe, müsse er selbst unter den Aufwieglern gewesen sein. (…)
Diese Szenen kommen so in Rudolf Braunes Buch, "Junge Leute in der Stadt", nicht vor. Der 1907 in Dresden geborene und 1932 verunglückte Autodidakt war fest mit der Arbeiterbewegung verbunden. Sein erzählerisches Werk bezeugt das. "Junge Leute in der Stadt" ist der Versuch, Alltagsbeobachtungen in eine künstlerische Form zu bringen. Ästhetisch ist das kaum gelungen, doch gebührt dem jungen Mann die Ehre, "die wirkliche Welt gesehen und sie von der Scheinwelt unterschieden zu haben" (Egon Erwin Kisch). Sein Buch bietet die wahrheitsgetreue Schilderung einer Ordnung, die sich demokratisch gab und lange die Legende von den goldenen zwanziger Jahren in Anspruch nahm – der Weimarer Republik. Kurt Tucholsky schrieb 1929 in einem Brief an Herbert Ihering, der ihm künstlerische Mängel seines "Deutschlandbuches" vorgeworfen hatte: "Hören Sie nicht den unterirdischen Schrei, der oft keinen künstlerischen Ausdruck findet und den man mit allen raffinierten Mitteln unterdrückt, wo man nur kann? (…)"
Lotz und sein Team bauen den Film aus vielen Details – Randfiguren, Bilder, Geräusche, Musik –, die Deutungen vertiefen und erweitern. In den Straßenszenen sind fast immer Kinder zu sehen. Gleich am Anfang, wo die ankommende Varieté-Truppe auf dem Bahnhof mit Arbeiterkindern aus dem Roten Mansfeld zusammentrifft, erfolgt ein langer, stummer Blickwechsel zwischen Susi und einem kleinen Mädchen. Die obszönen Kostüme der Girls weisen auf einen weiteren thematischen Aspekt: Mißbrauch von Sexualität.
Dokumentaraufnahmen geben der Geschichte einen authentischen Hintergrund, werden aber auch zu Bildern der Anklage, wie die Aufnahmen vom Blut-Mai 1929 in Berlin. Authentisch und gleichnishaft zu wirken, lag offensichtlich im Bemühen des Regisseurs. Die meist dunkel wirkenden Farben, Originalschauplätze, wiederum nicht einem identifizierbaren Ort zugeordnet, sind dafür Beweis, wie auch der Einsatz von Musik und Geräuschen, die einander überlagern oder ineinander übergehen. (…)