Silvester Countdown
Silvester Countdown
Hans Schifferle, epd Film, Nr. 03, 1998
Ein kurzer Film über die Liebe in den späten 90er Jahren. Eine Geschichte von zwei jungen Leuten aus Berlin namens Romeo und Julia. Keine Beziehungskiste, aber auch keine richtige romantische Love-Story. Vielmehr ein Spiel, das jederzeit in bitteren Ernst umschlagen könnte. Ein einfacher Film, und doch kompliziert - wie die Liebe selbst.
Wenn man Romeo zum erstenmal sieht, tanzt er nackt in seiner Wohnung. Auf dem Kopf trägt er indianischen Federschmuck. Dieses Bild gibt den Gesamteindruck von Roehlers Film wieder: Entblößung wird verknüpft mit Maskenspiel, simple Strukturen mit unabwägbaren Kapriolen.
Die Liebesgeschichte gleicht durchaus einem Experiment, der Sex einem Theater-Workshop. Die Zeit des Kennenlernens und des Verliebens haben Romeo und Julia schon hinter sich. Jetzt wollen sie, schreckliche Kinder der Generation X, die Beziehung testen, Liebe und Leidenschaft proben. Werbespots und Filme wie "Dressed to Kill" und "9 1/2 Wochen" dienen dabei als Vorbilder und Anhaltspunkte. Die Liebesrituale, Sex-Eskapaden und Machtspiele sind enervierend und komisch zugleich. Manchmal geht auch ein schöner Reiz von ihnen aus: wenn es nach heftigen, theatralischen Ausbrüchen unschuldige Momente der Zweisamkeit gibt. Nach einem wilden, lauten Streit fragt Romeo Julia ruhig, was sie jetzt machen könnten.
Als Lektüre zu Roehlers Film ist Roland Barthes" "Fragment einer Sprache der Liebe" zu empfehlen. Um Wahrheit und Spiel geht es in "Silvester Countdown". Um Wahrheit im Spiel und um Spiele der Wahrheit: Romeo gibt den Macho mit Intellekt und Sensibilität. Er ist klein und drahtig, eifersüchtig und sexbesessen, impulsiv und schnell beleidigt. Julia gibt das Girlie: Zickig, provozierend, selbstbewußt in ihrer Hingabe. Es scheint manchmal, als müßten sie Männchen und Weibchen spielen, weil es nur noch Geschlechterrollen gibt. Ihr Background wird nur angedeutet: Romeo arbeitet wohl in der Werbebranche, Julia ist Schülerin oder Studentin. Romeo hat eine große, leere Wohnung, die zur schicken Spielwiese ihrer Liebesspiele wird. In einem Zimmer hängt ein überlebensgroßes Selbstporträt von Romeo: Zeichen einer Ego-Trip-Schau.
Romeo und Julia sind also ein wenig Hipster, ein wenig Slacker. Wenn sie aber zu Silvester nach Polen fahren, erinnern sie an Interrail-Touristen. Das scheinbar Disparate gibt Roehlers Film eine schöne Authentizität. Eine Szene, die ganz und gar lebensecht wirkt, spielt sich gleich in Polen ab. Mit einem befreundeten Paar steigen Romeo und Julia einen schneebedeckten Berg hoch. Während sich Julia und die Bekannten dabei leichttun, hat Romeo wegen schlechten Schuhwerks seine Probleme. Man macht sich natürlich lustig über ihn, und er wird immer gereizter. Die kleine Reise, die einmal ein Traum für die beiden war, wird zur Nervenprobe. Die Vorstellungen und die Wirklichkeit: sie mögen nur selten zusammengehen.
Silvester verbringen die beiden in Warschau. Wie Hänsel und Gretel irren sie durch die kalte polnische Metropole. In einer Peep-Show kommt es zu grotesken Verwicklungen, als Julia auf der Bühne zu tanzen beginnt. In einem Augenblick wirken sie arrogant in Warschau. Dann wieder scheinen sie verloren, als sie den Weg zurück in ihre Unterkunft nicht finden. Auch Mel Gibson, der von einem Plakat herunterleuchtet, kann ihnen dabei nicht helfen. Die Rückreise nach Berlin handelt davon, wie Julia aus Frust Unmengen von Wurst verdrückt, während Romeo versucht, auf der Gepäckablage zu schlafen. Als polnischer Fahrgast hat zudem Christoph Schlingensief, mit dem Oskar Roehler wiederholt zusammengearbeitet hat (er war Co-Autor bei Schlingensiefs "Terror 2000" und "United Trash"), einen Gastauftritt.
Silvester bedeutet auch Rückblick und Neubeginn. Das junge Paar will sich etwas aufsparen für später: etwas Sex oder eine Träne. Bonjour Tristesse! Das Melodram des Kinos ist schmerzlich-wunderbar, das Melo des Lebens nur nervenzerfetzend. Romeo und Julia Ende der 90er: unbefriedigt.
Oskar Roehler und seinen hervorragenden Akteuren Rolf Peter Kahl und Marie Zielcke ist eine kleines Kunststück gelungen: die Mischung aus Generation-X-Frust, BRD-Wirklichkeit, Kino-Träumen und Nouvelle-Vague-Reminiszenzen bereitet Vergnügen. Man möchte den Kopf schütteln, man möchte weinen um dieses seltsame und typische Liebespaar. Aber dann ertappt man sich dabei, daß man lächelt. "Love is a many splendoured thing" hieß es in einem alten Filmschlager. Die Liebe ist halt eine komische Sache. Neben Eckhart Schmidts "Broken Hearts" einer der besseren deutschen Liebesfilme der letzten Jahre.