Emden geht nach USA. 4. Und nun kommst du
Nachrichten aus der Fremde
Hans-Christoph Blumenberg, Die Zeit, 24.12.1976
Welche Gegend liegt uns ferner: Ostfriesland oder China? Nur spärlich dringen Mitteilungen vom vermeintlichen Rand der Welt über die medialen Kanäle in unsere Stuben: gelegentliche Schnipsel von eigensinnigen Blondmännern und arbeitsamen Schlitzaugen, ein paar beliebige Tagesschau-Bilder von der Marsch und von der Mauer, manchmal ein etwas längeres Feature über das exotische Leben und Treiben in Aurich oder Peking, hergestellt aus flüchtigen optischen Impressionen und allwissenden Kommentaren, die über die Dürftigkeit der unsachlich gelieferten Informationen hinweghelfen sollen.
Gegen die Trostlosigkeit der üblichen Fernseh-Praxis, Leute und Länder fast ausschließlich unter dem Aspekt des "Interessanten", des touristisch Eingängigen zu präsentieren, steht ein Satz des Hamburger Dokumentarfilm-Regisseurs Klaus Wildenhahn: "Die Absicht des Dokumentarfilms ist es nicht, Sensationen hinterherzulaufen. Das Drama liegt im Alltag." Dokumentarische Arbeit, so wie Wildenhahn sie versteht, und in Filmen wie "In der Fremde" (Beobachtungen auf einer Baustelle) und "Die Liebe zum Land" (über die Schwierigkeiten der Landwirtschaft am Beispiel einer schleswig-holsteinischen Bauern-Familie) auch praktiziert hat, findet im deutschen Fernsehen kaum je statt. Denn Wildenhahns dokumentarische Methode setzt Produktionsbedingungen voraus, die den Aristokraten in den Sendern nicht nur als abenteuerlich, sondern letztlich als frivol gelten.
Wo das normale Fernseh-Feature seinen Gegenstand als Rohmaterial für eine journalistisch griffige Reportage mitsamt allen möglichen Verkürzungen und redaktionellen Glättungen benutzt, stellt Wildenhahn den Betroffenen selber das Medium zur Verfügung, läßt sich keineswegs auf eine fiktive "Ausgewogenheit" ein: "Es kann keine Frage sein, daß Dokumentarfilm eine Plattform für jene sein muß, die sonst nicht zu Wort kommen, daß Dokumentarfilm jene reden lassen muß, die sonst nicht an Diskussionen teilnehmen, und zwar in einer Sprache, die sonst nicht gehört wird im Medium."
Die Sprache, die in Wildenhahns neuem, aus vier je 60 Minuten langen Teilen bestehenden Film "Emden geht nach USA" zu hören ist, ist das Platt der ostfriesischen Arbeiter: ein Dialekt, der schon Leuten in Bremen oder Münster so fremd klingt, daß etliche Passagen der Verständlichkeit halber hochdeutsch untertitelt werden mußten. 27 Wochen lang – eine unerhörte Drehzeit für deutsche Fernseh-Verhältnisse – haben Wildenhahn und seine Kamerafrau Gisela Tuchtenhagen vom Sommer 1975 bis zum Januar 1976 in und um Emden gedreht. 240 Minuten lang protokollieren sie die Reaktionen der Emdener VW-Arbeiter auf die Nachricht, daß der Konzern ein Zweigwerk in den USA eröffnen will, was für das Werk in Emden den Verlust weiterer Arbeitsplätze bedeutet, nachdem schon 1974/75 rund eintausend ostfriesische VW-Arbeiter entlassen worden waren.
In diesem Klima der Angst, der Ratlosigkeit, der Verzweiflung zeigen Wildenhahn und Tuchtenhagen, wie einige Vertrauensleute der IG Metall sich Gegenmaßnahmen überlegen, wie eine Protestdemonstration vorbereitet und durchgeführt wird, an der statt der erwarteten zehntausend nur dreitausend VW-Arbeiter teilnehmen, wie Gewerkschaftsarbeit auf der untersten, sonst nie im Fernsehen gezeigten Funktionärs-Ebene vonstatten geht, wie in endlosen Diskussionen demokratische Entscheidungen zustande kommen.
Wildenhahn (Ton) und Tuchtenhagen (Kamera) arbeiten allein, ohne den üblichen Fernsehaufwand mit Assistenten, Kabeln und Scheinwerfern. Sie drängen sich nicht auf, sondern bleiben als unendlich geduldige Beobachter am Rand der Szene, stellen zwar gelegentlich Fragen, aber nur zur Klarstellung, nicht zur Beeinflussung des Geschehens. Für die Zeit der Dreharbeiten lebten sie praktisch mit den Arbeitern, fuhren morgens um drei mit den ersten Bussen aus dem Umland mit zur Frühschicht, filmten nicht nur in Versammlungen, sondern auch in Kneipen und Häusern. Sie traten nicht auf als "das Fernsehen", das mit riesigem technischen Aufwand die Wirklichkeit entstellt, sondern suchten und fanden das Vertrauen der Betroffenen, die sie akzeptierten, die sich ungezwungen vor der Kamera bewegten, sie schließlich vergaßen.
Dabei kam den Filmemachern nicht zuletzt zugute, daß ihr extrem lichtempfindliches Filmmaterial den Einsatz von künstlichem Licht überflüssig machte. Selbst bei den nächtlichen Busfahrten drehte Gisela Tuchtenhagen ohne Lampen, erreichte so eine Intimität und Authentizität, die zwar auf Kosten der technischen Qualität im herkömmlichen Sinn zustande kommt, aber gerade eine gewisse Rohheit des Materials schafft eine starke ästhetische Faszination, die den glatten Fernsehbildern allemal fehlt. Wildenhahn sagt: "Der Dokumentarist ist abhängig von seiner Umgebung, er kann sie nicht nach seiner Autorenvorstellung ummodeln ... Kamerabewegung, Lichtverhältnisse, Gespräche, Aktionen lassen sich nicht vorherbestimmen; die Filmmacher sind keine Arrangeure von Aufnahmematerial, sie laufen dem Material nach."
Das ist, vier Stunden lang, äußerst spannend anzusehen. Im Gegensatz zum gängigen Fernseh-Feature, das die Leute als Stichwortgeber des Machers mißbraucht, lernt man hier in einer nie langweiligen Ausführlichkeit Menschen und ihre Lebensumstände wirklich kennen: Den Arbeiter Ferdinand Dirks und seine Familie, den IG-Metall-Funktionär Jan Wiltfang und andere. Individualitäten werden sichtbar, eine Sprache kommt vor, die kaum jemand außerhalb von Ostfriesland kennt; Nachrichten aus der Provinz, die das Fernsehen sonst nicht telegen und aufregend genug findet, die jetzt eben auch nur im Weihnachtssonderprogramm des Nordkette und des WDR zu sehen und zu hören sind: Am 25. Dezember ("Abbauen, Abbauen"), am 27. Dezember ("Wir können soviel"), am 29. Dezember ("Voll rein") und am 2. Januar ("Und nun kommst du").
Dazu gibt es, in einem viel zu selten praktizierten Medienverbund, am 26. Dezember im Dritten NDR-Hörfunkprogramm eine halbstündige Sendung des Hamburger Medienwissenschaftlers und Publizisten Heinrich Breloer über Wildenhahn und sein Projekt "Emden geht nach USA". Ein fünfter, aus dem Emden-Material hergestellter Film, der einen Bogen schlägt zur Geschichte der ostfriesischen Region und den Wildenhahn "poetisch" nennt, soll am 22. Januar laufen. Abgerundet werden soll das Projekt schließlich durch einen synthetischen Film (Spielfilm), der aus den Erfahrungen mit dem dokumentarischen Material eine Spiel-Handlung filtert.
Ein noch monumentaleres Dokumentarfilm-Unternehmen als das von Wildenhahn, das gleichfalls durch seinen schieren Umfang die üblichen Fernsehregeln außer Kraft setzt, ist, jedenfalls in Teilen, fast zur gleichen Zeit wie "Emden geht nach USA" zu sehen: Der China-Zyklus "Yü Gung versetzt Berge" von Joris Ivens und Marceline Loridan. In seinem hervorragenden Standardwerk "Über synthetischen und dokumentarischen Film" nennt Wildenhahn seinen Kollegen Joris Ivens einen "großen und engagierten Könner". Der Holländer Ivens, der seine ersten Filme Ende der zwanziger Jahre drehte, der mit seiner Kamera im spanischen Bürgerkrieg ("Spanish Earth", Kommentar von Ernest Hemingway), im von Japan bedrohten China ("400 Millionen", 1938), bei der kubanischen Revolution ("Bewaffnetes Volk", 1960/61), im Vietnam-Krieg ("Der siebzehnte Breitengrad", 1967) und in Laos ("Das Volk und seine Gewehre", 1968) dabei war, gilt als Mitbegründer der engagierten Dokumentarfilm-Schule, als Guru des Dokumentarismus, auch wenn er gelegentlich in seinen Filmen den dokumentarischen Charakter durch inszenierte Sequenzen aufgebrochen hat, was aber in den dreißiger und vierziger Jahren in Anbetracht der damals noch so schwerfälligen Aufnahmegeräte kaum anders möglich war.
Für Ivens, diesen bedeutenden Grenzgänger zwischen dokumentarischem und synthetischem Film, gilt exemplarisch Wildenhahns Satz: "Objektivität hat seit Beginn der dokumentarischen Filmarbeit nie existiert. Jeder nennenswerte Dokumentarist ergreift Partei in seinem Produkt, durch sein Produkt." Wobei Parteinahme keineswegs Propaganda bedeutet, sondern Anteilnahme. Ivens ist zusammen mit seiner französischen Mitarbeiterin und Tonfrau Marceline Loridan und zwei chinesischen Kameramännern drei Jahre lang durch China gereist, ohne irgendwelche Restriktionen, und hat aus dem Material zwölf Filme montiert, die in Paris mit großem Erfolg in vier Kinos im Quartier Latin liefen. Fünf dieser unterschiedlich langen Einblicke in den chinesischen Alltag nach der Kulturrevolution kommen jetzt ins deutsche Fernsehen. Der erste, "Die Apotheke Nr. 3 in Shanghai", läuft am 22. Dezember im Ersten Programm, am 26. Dezember folgt im Weihnachtssonderprogramm der Nordkette und des WDR "Eine Frau, eine Familie". Bis Ende Januar werden dann "Die Generatorenfabrik", "Das Fischerdorf", "Die Geschichte mit dem Fußball", ein Interview des zuständigen NDR-Redakteurs Hans Brecht mit Ivens und Loridan und, noch einmal im Dritten Programm, "Die Apotheke Nr. 3 in Shanghai", gezeigt.
Acht Wochen lang haben Ivens und Loridan zum Beispiel in der rund um die Uhr geöffneten Apotheke Nr. 3 in Shanghai gedreht. Allmählich gewöhnten sich Angestellte und Kunden an die Gegenwart der Filmemacher, breiteten ihre Probleme aus, trugen Diskussionen und Selbstkritik vor Ivens" geduldiger, wenn auch gelegentlich reichlich bewegter Kamera aus. Die Klagen und Beschwerden der Kunden kommen ebenso vor wie die Anstrengungen der Angestellten, ihre Leistungen zu verbessern.
So entsteht, wie in den anderen Filmen des Zyklus auch, ein sehr detailliertes Bild der chinesischen Wirklichkeit, weit entfernt von der pittoresken Oberfläche, mit der sich die Auslandskorrespondenzen des Fernsehens mangels Zeit und Geduld bescheiden. Anders als Michelangelo Antonioni, der seinen China-Film aus der Perspektive des Fremden, Befremdeten drehte, versucht Ivens die Entwicklung von innen heraus zu verstehen. Sein China ist ein Land, das man noch nie gesehen hat. Ivens sagt dazu: "Die westlichen Journalisten, die nach China kommen, machen zu oft den gleichen Fehler: sie halten ihre Kameras und Mikrophone in zehn Zentimeter Entfernung auf einen Chinesen und bedrängen ihn mit aggressiven Fragen. Dann wundern sie sich, daß sie nur ein höfliches Lächeln und ausweichende Antworten erhalten. Einen Film machen, das heißt vor allem anderen: einen Dialog führen. Das haben wir versucht." Ähnliches könnte auch Wildenhahn über seinen Emden-Film gesagt haben.
Ausführliche Informationen über den Zyklus "Yü Gung versetzt Berge" enthält das November-Heft der Zeitschrift "Filmkritik". Ein leider durch seinen orthodoxen kommunistischen Slang verdorbenes Buch über Ivens, das dennoch interessantes Material enthält, hat gerade der Berliner Oberbaumverlag herausgebracht: "Joris Ivens – Ein Filmer an den Fronten der Weltrevolution" – von Klaus Kreimeier (159 Seiten, 8 Mark).
© Hans-Christoph Blumenberg