Northern Star
Northern Star
Anke Sterneborg, epd Film, Nr. 12, 02.12.2004
Es sah wie ein Spiel aus und war doch tödlicher Ernst, damals vor 13 Jahren, als die fünfjährige Anke mit ihrem Vater zwischen den Strandkörben im Sand saß. Arglos begann sie zu zählen, doch statt sich nur harmlos zu verstecken, stahl sich der Vater heimlich davon aus ihrem und seinem Leben, flüchtete sich ins Wasser, in den Tod. Wahrscheinlich hat sie den Geruch des Alkohols noch heute in der Nase, den Metaxa, mit dem er sich betäubte, bevor er ins kalte Meer hinauslief. Es ist ein starker Moment, in dem das Kind am Strand steht und dem sich unwiederbringlich entfernenden Vater mit großen, traurigen Augen fassungslos passiv nachschaut. Wie eine schwarze Wolke legt er sich über ihr Leben und sorgt 13 Jahre später dafür, dass das Mädchen unter seiner jungen Haut schon sehr alt erscheint.
Julia Hummer spielt diese junge, trotzig rebellische Frau auf einem schmalen Grat zwischen Unschuld und Terror, Hilflosigkeit und Wut, zwischen Opferdasein und Täterschaft, als Seelenverwandte all der anderen ebenso schrecklichen wie gezeichneten Kinder in deutschen Nachwuchsfilmen der letzten Jahre, von "Nichts bereuen" über "Das weisse Rauschen", "alaska.de", "Gegen die Wand" bis hin zu Ayse Polats "En Garde" (Kritik auf Seite 44), all diese spröden, traurigen Mädchen, die sich keine Eitelkeiten leisten, weil sie ihren Gefühlen auf ganz existenzielle Weise unerbittlich ausgeliefert sind.
Dabei nimmt Julia Hummer noch einmal die Stimmung auf, die sie selbst bereits unter der Regie von Christian Petzold in "Die innere Sicherheit" intoniert hat, als junges Mädchen, das gegen das Leben im Untergrund rebelliert, das die RAF-Eltern ihm aufzwingen. Unglaublich hart und unversöhnlich wirkt sie in "Northern Star", wenn sie stoisch durch die Straßen ihrer Kleinstadt stapft, die schwarze zerbeulte Mütze tief in ein Gesicht gezogen, in dem die versteinerte Miene, der trotzige Blick und der spöttische Zug um die harten Lippen einen notdürftigen Panzer gegen ihre Verletzlichkeit und Schutzlosigkeit bilden. In den Jahren der Trauer hat sie den Vater zum Heiligen stilisiert und gleichzeitig die Mutter (Lena Stolze) zur Hure gestempelt, die seinen Tod mit einem Seitensprung herbeigeführt hat. Ein wenig überzogen wirkt die exzessive Idealisierung des Vaters in einem Film, der sonst ein feines Gespür beweist, für die Nuancen des Gefühls, die die Kamera von Roman Nowocien mit beiläufiger Aufmerksamkeit von den Gesichtern liest: Wie Anke in einem Moment hilfesuchend auf einen Freund zugeht, nur um ihn im nächsten brüsk von sich zu stoßen. Wie sie provozierend nur vom Ficken spricht, weil sie den Sex bisher vor allem als Verrat empfunden hat. Wie sie ein Knäckebrot oder einen Tischtennisball zu Werkzeugen ihrer Verachtung und ihres Unwillens macht. Wie sie auf triumphierend grausame Weise die Lehrerin vor versammelter Klasse mit der ungeheuerlichen Offenbarung "Dein Mann fickt mit meiner Mutter" konfrontiert. Aber auch wie sie sich ganz langsam annähert, an einen ebenfalls gerade vaterlos gewordenen Bekannten, bis die beiden gemeinsam ein Zimmer zertrümmern, als ginge es darum, die Dämonen der Kindheit zu besiegen, und wie danach ihre Gesichter zum ersten Mal weicher werden, für kostbare, flüchtige Momente unbeschwerter Leichtigkeit. Schon da ahnt man, dass das Mädchen noch weit davon entfernt ist, dauerhaften Frieden mit irgendjemandem zu schließen.