Carpatia - Geschichten aus der Mitte Europas

Deutschland Österreich 2002-2004 Dokumentarfilm

Carpatia

Dokumentarfilm über eine "terra incognita" in der Mitte Europas



Raimund Gerz, epd Film, Nr. 12, 02.12.2004

Eine "terra incognita im Bewusstsein von Westeuropäern" nennen die Filmemacher Andrzej Klamt und Ulrich Rydzewski die Karpaten – jene Landschaft östlich von Wien, die das südliche Polen, Ungarn und die Ukraine berührt und in der slowakischen Hohen Tatra ihren höchsten Punkt erreicht. Diese Länder gehörten bis 1918 zur österreichisch-ungarischen Donaumonarchie und gerieten nach 1945 in den Einflussbereich der Sowjetunion.

"Carpatia" ist eine Liebeserklärung der Filmemacher an diese fremde Mittel- und Hochgebirgswelt und ihre Bewohner. Klamt, der unweit der Karpaten in Polen aufwuchs, und Rydzewski nähern sich der Landschaft langsam und respektvoll. Der Rhythmus ihrer Bilder versucht, den Lebensrhythmus von Natur und Menschen in filmische Impressionen zu übersetzen. Das Ergebnis ist eigenwillig und faszinierend zugleich. Eigenwillig, weil man sich an die langen, fast statischen Einstellungen und langsamen Kamerafahrten erst wieder gewöhnen muss; faszinierend, weil diese Bilder eine enorme Kraft entwickeln und den Zuschauer bis zum Ende der Reise nicht mehr loslassen. Die Filmemacher sind dabei sichtbar bemüht, die Eigenart der Landschaft durch filmische Mittel zu unterstreichen. Ihre Naturtableaus, zu unterschiedlichen Jahres- wie Tageszeiten aufgenommen, erstrecken sich unter einem weiten, von Wolken und Licht oft dramatisch und effektvoll ausstaffierten Himmel. Im Wechsel zu den Totalen finden sich Miniaturen wie im Wind sich wiegendes Gras oder kahle Bäume, die wie bizarre Wesen im Nebel stehen. Dennoch ist "Carpatia" kein "Naturfilm", noch weniger ein belehrendes Feature. Kein Kommentar oder Off-Ton stört seinen meditativen Charakter. Die Bilder verlieren sich nicht in jenem – oft musikalisch aufgeladenen – Pathos, das "Bergfilme" so schwer erträglich macht. Klamt und Rydzewski verzichten völlig auf Musik. Für die Geräuschkulisse bedienen sie sich einfach bei der Natur selbst: Wind und Regen, Donner und die Laute der Tiere bilden den "Soundtrack" dieser Sequenzen.

Die "Bilder aus der Mitte Europas" (Untertitel) lassen aber vor allem Menschen zu Wort kommen, die in dieser multinationalen Landschaft leben: darunter ukrainische Huzulen, Goralen aus den polnischen Beskiden, rumänische Sinti und galizische Juden. Und diese Menschen machen deutlich, dass das Leben in der Gebirgslandschaft hauptsächlich von Entbehrungen und, immer wieder, auch von Umbrüchen geprägt ist. Die huzulischen Bauern, die "Freiheit und die frische Luft" dem Stadtleben vorziehen, erzählen von harten Wintern und hungrigen Wölfen. Galizische Juden berichten vom Untergang ihrer einstmals blühenden Kultur. Die Rote Armee habe sie im Stich gelassen, nach ihrem Abzug hätten sich die nicht-jüdischen Nachbarn – in Erwartung der Deutschen – die Besitztümer der Juden gewaltsam angeeignet. Hitler, so ein Rabbi, habe die galizischen Juden "körperlich ermordet". Die "geistige Vernichtung" hätten später die Sowjets vollendet. Das Jiddische und das Hebräische seien als Sprache in dieser Gegend weitgehend verschwunden, ebenso jüdische Tradition und Lebensart. Die Synagoge von Kolomyja, so befürchtet ein alter Mann, werde wohl in einen Jugendclub umgewandelt – wenn die letzten Gläubigen verschwunden sind.

Es sind nicht nur die langen Schatten der Geschichte, die auf dieser Landschaft liegen. Es kündigen sich neue Bedrohungen an. Im rumänischen Transsilvanien haben die dort sesshaften Sinti neben der Diskriminierung als Volksgruppe auch verschärfte Armut zu erdulden, weil die Privatisierung ehemals staatlicher Einrichtungen Arbeitsplätze vernichtet. Auch in den rumänischen Westkarpaten wird die neue Zeit gravierende Spuren hinterlassen. Tiefe Wunden hat eine Goldmine, die im Tagebau ausgebeutet wird, bereits hinterlassen. Nun müssen den Expansionsgelüsten westlicher Investoren weitere menschliche Siedlungen weichen, die Entwurzelung der Bevölkerung schreitet voran.

Andrzej Klamt, dessen Dokumentarfilm "Verzeihung, ich lebe" von der Jury der Evangelischen Filmarbeit zum "Film des Jahres 2000" gewählt wurde, und Ulrich Rydzewski, der mit Klamt unter anderem den preisgekrönten Dokumentarfilm "Pelym" (1996 - 1998) realisierte, erweitern mit ihrem "Carpatia"-Projekt nicht nur unseren geographischen und kulturellen Horizont. Ihr eindrucksvoller Film ist auch ein Beleg dafür, welche Intensität und Aussagekraft dokumentarische Bilder haben können – wenn man ihnen, jenseits aller Quotenhektik und TV-Geschwätzigkeit, Möglichkeiten zu ihrer Entfaltung bietet.

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