Die Mitte
Die Mitte
Michael Kohler, film-dienst, Nr.10, 13.05.2004
Die europäische Furcht vor Europa gehorcht einer kuriosen Ironie. Nachdem der Traum einer okzidental geprägten Welt in den unabhängig gewordenen Kolonien begraben werden musste, regt sich ein von der eigenen Vergangenheit genährtes Misstrauen: Wird der kolonialistische Geist fortan in den eigenen vier Wänden toben? Nicht nur im traditionell eigenbrötlerischen Großbritannien geht die Angst vor einem gemeinsamen Haus Europa um, das jeden Mieter unter die Kuratel des Brüsseler Blockwarts stellt und neben dem Krümmungsgrad der Banane auch nationale Eigenheiten der Normierung unterwirft. So sehr sich die Voraussetzungen der einzelnen Staaten dabei unterscheiden, einig sind sie sich darin, dass sie etwas zu verlieren haben: Die Chance auf Freizügigkeit und Wohlstand wird von der Möglichkeit getrübt, seine Souveränität am Ende gegen Glasperlen einzutauschen.
Gerade rechtzeitig zur Osterweiterung der Europäischen Union kommt mit Stanislaw Muchas „Die Mitte“ ein Dokumentarfilm in die Kinos, der die Frage nach der Einheit Europas listig mit einer Odyssee beantwortet. Muchas Ausgangspunkt ist ein hessisches Städtchen namens Mücke, das für sich reklamiert, der geografische Mittelpunkt Europas zu sein.
Von hier aus bricht Mucha samt technischem Anhang zu acht weiteren Gemeinden in Deutschland, Österreich, Polen, der Slowakei, Litauen und der westlichen Ukraine auf, die jeweils dasselbe von ihrem Fleckchen Erde behaupten. Sein dokumentarisches Konzept ist dabei denkbar einfach: Vor Ort fragt er den scheinbar nächstbesten Passanten nach dem Weg und kommt so über die lokale Attraktion ins meist freundliche Gespräch. Obwohl sich gleich drei deutsche Orte die europäische Mittellage bescheinigen, sind die osteuropäischen Länder Muchas eigentliches Reiseziel. Die Grenze zwischen den alten und den neuen EU-Mitgliedsstaaten verläuft quer durch seinen Film, und der Regisseur macht keinen Hehl daraus, dass ihn der wohlgeordnete Westen nur am Rande interessiert. In Deutschland stürzt er einen städtischen Beamten unbeabsichtigt in Beweisnot, im österreichischen Braunau am Inn liest er eine historische Anekdote auf: Seinerzeit proklamierte Napoleon Hitlers späteren Geburtsort als Zentrum der ihm untergebenen Welt. Erst in der Slowakei findet Mucha dann jenen der Armut abgetrotzten Lebenswillen vor, der ihn schon für „Absolut Warhola“ (fd 35 134) in die ruthenische Heimat von Andy Warhol zog. In der Ortschaft Kahule erzählt ihm der Priester, ein Engel habe den Bauherren die zentrale Stelle für das Kirchenfundament gezeigt, und zwei einander in Feindschaft ergebene Nachbarn erzürnen sich vor einem Wahlplakat: „In die Europäische Union, aber nicht mit nackten Ärschen.“ So geht es weiter durch das Hinterland des Ostens, über Dörfer und Felder, stets am roten Faden unheroischen Verfalls entlang: Eine litauische Großfamilie trauert einmütig dem Sowjetreich nach, während ein ergrautes Ehepaar berichtet, viele Nachbarn hätten nach der Unabhängigkeit ihr letztes Geld versoffen und sich anschließend erhängt.
Wie schon in „Absolut Warhola“ tritt Stanislaw Mucha seinen Gegenübern als freundlicher Gast entgegen und zeigt dabei ein bemerkenswertes Gespür für die Aussagekraft alltäglicher Szenen. Hier pirscht sich kein als engagierter Filmemacher verkleideter Armutstourist heran, vielmehr ist ein rücksichtsvoller Zuhörer am Werk, der um die Paradoxien des dokumentarischen Gewerbes weiß. Man spürt die tiefe Sympathie, die Mucha für die Menschen hegt, gerade auch weil ihre verschlafene Welt nicht unbedingt darauf zu warten scheint, geweckt zu werden. Die alles entscheidende Frage der politischen Journale, nämlich ob sich der „kleine Mann“ durch die EU eine wirtschaftliche Besserung erhofft, beantwortet sich dabei beinahe von selbst: Auf den gealterten Gesichtern der Dörfler hat sich die Gewissheit eingeschrieben, dass der Fortschritt an ihrer Scholle vorbeigehen wird. Europa ist für sie eine vage Idee, konkrete Aufschwungfantasien sind in „Die Mitte“ nur in einer polnischen Wochenschau zu sehen. Doch deren fröhlicher Propaganda- Ton könnte wohl keinen von Muchas Protagonisten überzeugen.
Die längste Zeit verbringt Stanislaw Mucha in der Stadt Rachiv, die genau auf der Zeitgrenze zwischen Mitteleuropa und der Ukraine liegt. Das mag eine etwas simple Metapher dafür sein, dass im Osten die Uhren anders ticken, doch verfehlt sie ihre Wirkung nicht. Trotz seines tristen Rahmens nähert sich „Die Mitte“ mitunter der Burleske an, etwa wenn ein ausgestopfter Hirsch von Reisenden wie das goldene Kalb umlagert wird oder die wissenschaftlich exakte Berechnung eines Mittelpunkts allzu offensichtlich vom touristischen Nutzwert inspiriert ist. Ein Running Gag ist die Inflation der geografischen Mitten jedoch nicht. Das Ganze hat Methode: Es ist ein Vorwand, um Menschen und Landschaften zu erkunden, die so gar nicht in das europäische Selbstbild passen wollen. Die Mitte, das zeigt Muchas Film, ist Europas blinder Fleck.