Die Überlebenden

Deutschland 1994-1996 Dokumentarfilm

Die Überlebenden

Stefan Reinecke, epd Film, Nr. 11, November 1996

"Die Überlebenden" ist ein Dokumentarfilm über die thirty-something von heute, die schon mit 13 irgendwie zu spät kamen. Woodstock und die Studentenrevolte waren schon vorbei. So wurden die eigenen Revolteversuche zur Nachinszenierung eines Stückes, das schon einmal aufgeführt worden war. Ironischer Abstand war die typischste Attitüde dieser Generation, erkauft mit Unauffälligkeit. Ganz und gar eigene Ideen oder Lebensentwürfe haben die thirty-something nicht zu Wege gebracht. Da waren, bis heute, die großen 68er-Geschwister vor.

Der Dokumentarfilmer Andres Veiel ist auf dem Weg, eine Art Chronist dieser Generation zu werden. Zu Beginn von "Die Überlebenden" sieht man Super-8-Bilder aus den siebziger Jahren. Ein Junge mit langen Haaren und Wildlederjacke tanzt im Wald. Im Off hört man Deep Purple. Thilo, der Junge mit dem charismatischen Gesicht, hat sich umgebracht, wie zwei andere aus seiner Klasse. Dieser Beginn inszeniert die Zeichen der Jugendrevolte, deren Scheitern der Selbstmord besiegeln wird. Thilo, der Begabte, spielte Keyboards in einer Jazzrockcombo, in Stammheim sah er die RAF-Prozesse. Zu Hause prügelt er sich mit dem übermächtigen Vater. "Daheim" sagt die Freundin, "war er wie ein Kleinkind, geduckt als würde er gleich Schläge bekommen." Kalte, tyrannische Väter, neurotische Söhne.

"Die Überlebenden" beschreibt in drei Fallstudien bundesdeutsche Alltagswelt, in die ein Unglück einbricht. Der zweite Tote, Rudi, war kein Held: eher der introvertierte, schwierige Sprößling einer sudetendeutschen Flüchtlingsfamilie. Der Vater hat einen Gemischtwarenladen, sein Mercedes ist sein ganzer Stolz. "Es war Herzstillstand", sagt er bitter und wendet sich ab. Der Vater leugnet seit zehn Jahren, was in Stuttgart-Möhringen alle wissen: daß er selbst Rudi am Fensterkreuz abschnitt. So erscheint auch Rudi als Opfer der Verhältnisse: der eisernen Überanpassung der Außenseiter an die schwäbische Normalität.

Doch dieses Muster wird um so brüchiger, je mehr man über die Figuren erfährt. Thilo erscheint zuerst als dissidenter Held, sein Tod als Fanal gegen die Normalität, die das Abweichende opfert, um ungestört weiter zu existieren. Sein Suizid assoziiert das Schicksal Bernward Vespers, des Apo-Aktivisten und Sohn des Nazidichters Will Vesper, der sich 1971 das Leben nahm. Vespers Selbstmord war eine heroische Geste, die das Scheitern der individuellen und politischen Revolte am eigenen Leib exerzierte. Doch hier ist die Nazivergangenheit ein Instrument im Kampf der Jüngeren gegen die Alten geworden. Daß sein Vater Richter in der Nazizeit war, bleibt Thilos Wunsch und Wahnvorstellung. Die Revolte erscheint wie ein schlechtes Plagiat von 1968, das ödipale Drama mit klarer moralischer Schlachtordnung fast wie ein Zitat.

Bei Tilmann, dem Unscheinbarsten des Trios, versagen schließlich alle Muster. Keine Lüge, die aufzudecken wäre, nur ratlose Eltern. "Vielleicht", sagt ein Freund, "hat er in den letzten Minuten vor dem Tod die Intensität gefunden, die er vermißte. Manche leben nur Sekunden." Keine Tragödie, keine Erklärung, nur banale Leere. So mündet "Die Überlebenden" in einen "Rashomon"-Effekt. Je weiter die Recherche vordringt, desto rätselhafter werden die Selbstmorde. No rebel heroes anymore.

So entwickelt Veiel eine raffinierte Dramaturgie der Enttäuschung, die Sinnversprechen aufbaut, um sie zu zerstören. Dieser Abschied von der Illusion, das ganz Andere leben zu können, ist freilich in Moll gehalten. Keine Abrechnung mit Jugendträumen und -irrtümern, wie sie bei manchen 68ern eine Weile Mode war, sondern ein suchender, melancholischer Rückblick. Noch darin trägt "Die Überlebenden" die Signatur seiner Generation: Wo das Bekenntnis fehlte, tut auch kein Abschwören Not.

Rights statement